Rezensiert von Thymian Bussemer
Paul Felix Lazarsfeld (1901-1976) war ohne Zweifel eine der prägenden Gestalten der US-amerikanischen Soziologie und Kommunikations- forschung. Viele sehen in ihm den eigentlichen Erfinder der sozial- wissenschaftlich orientierten Kommunikationswissenschaft, der Markt- und Meinungsforschung sowie der empirischen Handlungsanalyse. Die Kommunikationsforschung verdankt ihm nach wie vor benutzte Konzepte wie das der “opinion leader” oder den “two-step flow of communication”. Trotzdem ist Lazarsfeld bis heute nur einem recht schmalen Zirkel der sozialwissenschaftlichen Community bekannt. Wirklich kanonischen Rang erreichte er trotz klassischer Studien wie die “Arbeitslosen von Marienthal” (1933) oder “The People’s Choice” (1944) nie. Auch eine Breiten-Popularität, wie sie sein zwischenzeitlicher Halbtags-Mitarbeiter Theodor W. Adorno erlangte, wurde Lazarsfeld nicht zuteil. Selbst die fachwissenschaftliche Rezeption Lazarsfelds in der engeren Kommunikationswissenschaft blieb überschaubar.Liegt dies daran, dass der gebürtige Wiener und überzeugte Austromarxist, der 1933 mit einem Rockefeller-Stipendium in die USA emigrierte, dort einer der führenden Marktforscher wurde und gleichzeitig “marxist on leave” blieb, während seiner ungeheuer produktiven Karriere zu viele Felder beackerte? Dass Lazarsfeld mit den Kategorien einer Disziplin gar nicht zu fassen ist, weil er ein Wissensgebiet nach dem anderen der sozialwissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich machte, um sein rastloses Interesse dann sofort auf einen anderen Gegenstand zu richten?
Diesen Fragen geht der von Wolfgang R. Langenbucher herausgegebene Band Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk. Anstatt einer Biographie nach. Fast scheint es, als ob auch Langenbucher, einer der intimsten Kenner und engagiertesten Promotoren Lazarsfelds, vor der Aufgabe einer umfassenden Kontextualisierung des jüdischen Tausendsassas Lazarsfeld kapituliert. Denn an einer neueren Einordnung Lazarsfelds versuchen sich nur Langenbuchers Vorwort (“Der unerkannte Klassiker”) sowie ein Essay des Soziologen Anton Amann “zur Aktualität Paul F. Lazarsfelds”. Danach wird das Buch zum Reader, denn es folgen neun bereits an verstreuten Stellen publizierte Beiträge von und über Lazarsfeld. So dokumentiert Langenbucher Lazarfelds autobiografische Selbstauskunft von 1968 (“Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung”) ebenso wie Beiträge von Michael Pollack, Paul Neurath, Christian Fleck, René König, Nico Stehr und Anthony Oberschall über den Wissenschaftsmanager, Mathematiker, Kommunikationsforscher und Emigranten Lazarsfeld.
Genau an dieser Vorgehensweise beweist sich, dass Lazarsfeld wirklich nicht der Rang eines Klassikers zuzusprechen ist, denn dann wäre ein derartiges Unterfangen schon vor Jahrzehnten versucht worden. Tatsächlich blieb der von Langenbucher herausgegebene Lazarsfeld-Tagungsband von 1990 (Paul F. Lazarsfeld. Die Wiener Tradition der empirischen Sozial- und Kommunikationsforschung) für lange Zeit ein Solitär in der deutschen Lazarsfeld-Forschung. Viele der von Langenbucher in dem hier besprochenen Buch dokumentierten Texte erschienen in den 1970er und 1980er Jahren und sind heute nur noch auf Umwegen zugänglich. Vor diesem Hintergrund scheint es gerechtfertigt, sogar Aufsätze noch einmal abzudrucken, für die der Herausgeber vor zwanzig Jahren schon einmal als Herausgeber gezeichnet hat.
Vor allem aber überzeugt das Buch durch kluge Komposition: Am Anfang steht Lazarsfelds wunderbare Selbstauskunft, den Schluss macht ein von Lazarsfelds Freund und Nachlassverwalteter Paul Neurath eigens zusammengestelltes Verzeichnis der bislang unveröffentlichten Schriften Paul Felix Lazarsfelds. Zusammen mit der sorgfältig gestalteten Zeittafel zu Leben und Werk entsteht so ein echter ‘Lazarsfeld-Reader’, der für Studierende überaus nützlich ist und diesem großen Forscher für den deutschsprachigen Raum endlich das attestiert, was ihm bislang versagt war: kanonischen Rang.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Wolfgang R. Langenbucher an der Universität Wien
[…] posts:Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Paul Felix Lazarsfeld – Leben und Werk […]