Rezensiert von Nicolai Volland
Der rasante Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen und politischen Großmacht ist zweifelsohne eine der wichtigsten Mediengeschichten der vergangenen zwei Jahrzehnte. Gleichzeitig ist China im Begriff, zur Medienmacht zu werden — als zentrale und kontinuierliche Präsenz in den internationalen Massenmedien einerseits, und andererseits als einflussreicher Player auf einem globalisierten Medienschauplatz. Zeitungsleser und Fernsehzuschauer werden nahezu täglich mit Meldungen und Berichten über die Volksrepublik konfrontiert, und aller Sparzwänge zum Trotz stocken deutsche Medienunternehmen ihre Chinakapazitäten auf. Die chinesische Regierung versucht indessen sich mittels enormer Investitionen in den Mediensektor mehr Gehör im Ausland zu verschaffen und so ihren internationalen Einfluss auszubauen. Beide Entwicklungen weisen jedoch auch auf das Paradox einer kapitalistisch ausgerichteten Wirtschaftsmacht mit kommunistisch-autoritärer Führung hin: während Chinas staatlich gelenkte Medien bemüht sind, auf dem internationalen Medienmarkt Glaubwürdigkeit zu finden, versuchen ausländische Korrespondenten in China innerhalb der ihnen auferlegten Beschränkungen zu navigieren und dem Publikum in den Heimatländern den Aufstieg Chinas von der dritten in die erste Welt zu erklären.Für die Medien- und Kommunikationswissenschaften stellt der Aufstieg Chinas eine Herausforderung dar. Sprachliche und kulturelle Barrieren erschweren den Zugang zum chinesischen Mediensystem, das sich zudem in rasantem Wandel befindet. Entsprechend erfreulich ist die Zunahme in jüngster Zeit von kritischen Studien, die neues Licht auf zentrale Aspekte der “Mediengeschichte” Chinas werfen, und die ebenso empirisch fundiert wie theoretisch und konzeptuell ambitioniert das Spektrum der Forschung ausweiten. Die vorliegenden Studien gehören zu dieser Kategorie.
Sandra Voglreiter untersucht das Selbstverständnis deutscher Chinakorrespondenten und ihre Arbeitsbedigungen in einem Land mit einem radikal anderen soziokulturellen und politischen Großklima. Das Kernstück der konzeptionell prägnanten und eleganten Studie sind qualitative Leitfadeninterviews mit zwanzig deutschen Korrespondenten (das sind drei Viertel des deutschen Journalistenkorps in der Volksrepublik), die nach demographischen Faktoren ebenso wie nach Organisation der Arbeit vor Ort, den Herausforderungen im Arbeitsalltag, den rechtlichen Rahmenbedingungen sowie nach politischer Einflassnahme auf ihre Arbeit fragen. Im ersten von zwei Kernkapiteln entwickelt die Studie, die wohl informiert über den aktuellen Forschungsstand ist, einen theoretischen Erklärungsansatz, der auf dem Mehrebenenmodell Essers (1998) aufbaut, dieses aber leicht revidiert. Grundsätzlich gliedert die Autorin die die journalistische Arbeit beeinflussenden Faktoren in Gesellschafts- und Institutions-Sphären im Ausland (China) sowie Gesellschafts-, Medienstruktur- und Institutions-Sphären im Inland (Deutschland). Dieser Ansatz erlaubt es Voglreiter, eine logisch stringente und plausible Kategorisierung der zunächst subjektiven Einschätzungen ihrer Interviewpartner vorzunehmen.
In ihrem zweiten Kernkapitel präsentiert die Autorin die Ergebnisse ihrer Interviewauswertung. Das deutsche Journalistenkorps in China ist generell heterogen, besteht aus Pauschalisten wie Spezialisten und umfasst Agenturjournalisten, Presse- und Rundfunkkorrespondenten. In ihren Erfahrungen und Einschatzungen aber zeichnen sich deutlich Überlappungen ab, die bis zu einem gewissen Grad Generalisierungen zulassen. Das zunächst größte Hindernis in ihrer journalistischen Arbeit ist sprachlicher Natur: ein Viertel der deutschen Korrespondenten gibt an, keinerleich Chinesisch zu sprechen; und obwohl die meisten ihre sprachliche Kompetenz als “sehr gut” einschätzen, liest nur ein einziger Chinesisch flüssig genug um die Berichterstattung in den einheimischen Medien (Zeitungen, Internet) selbst zu verfolgen; alle anderen sind hochgradig abhängig von ihren chinsischen Mirarbeitern (ein Zustand der undenkbar wäre für Frankreich- oder USA-Korrespondenten). Den letzteren kommt deshalb eine wichtige Funktion zu hinsichtlich Quellenauswahl und Themensuche. Gleichzeitig sind einheimische Mitarbeiter aber deutlich stärker den Unwägbarkeiten des politischen Systems ausgesetzt.
Deutsche Journalisten in China bekommen immer wieder den Druck des Regimes zu spüren, der sich schlimmstenfalls in Ausweisung (bzw. Nichtverlängerung des Journalistenvisums) äußert; chinesische Mitarbeiter aber können rechtlich belangt werden und wurden mitunter zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Diese Faktoren haben teilweise Einfluss auf die Arbeit vor Ort, was sich jedoch in der Regel lediglich in der Organisation der journalistischen Arbeit äußert, und nicht in der Auswahl der Themen, die recherchiert werden können. Die Mehrzahl der Korrespondenten gibt in der Tat an, dass die Heimatredaktionen häufig mehr Einfluss auf die Themenauswahl haben als Bedingungen vor Ort — nicht immer zur Freude der Journalisten. Repressalien vor Ort sind die Ausnahme, und die interviewten Journalisten sprechen generell von allmählichen Verbesserungen in ihren Arbeitsbedigungen.
Voglreiters Studie ist ebenso wohlinformiert wie überzeugend und klar formuliert. Trotz vereinzelter, kleiner sachlicher Fehler (z. B. auf S. 42 und 83: es gibt keine allumfassende Zensur in der Volksrepublik; diese wäre schon wegen der Menge der Publikationen unmöglich, und außerdem zu unbequem für die lieber mit indirekter Einflussnahme agierende Propagandabteilung der Partei) ist Kurze Leine, Langer Atem ein guter und hochwillkommener Beitrag zur Forschung.
Peixin Cao nimmt sich eines spezifisch chinesischen Phänomens an, der “media incidents”. Die Kommunistsche Partei Chinas hat niemals den Anspruch auf uneingeschrankte Kontrollrechte über die gesamte Presse- und Medienlandschaft der Volksrepublik China aufgegeben. Bis heute unterliegen alle Medien in China — Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Rundfunk, Fernsehen, Internet — den Geboten der Partei und müssen deren Vorschriften umsetzen bzw. dürfen sich diesen nicht widersetzen. Verstöße können mit der Absetzung und Bestrafung von Redakteuren und Journalisten, oder sogar mit der Schließung solcher Medien geahndet werden. Im Zuge von wirtschaftlicher Liberalisierung, gesellschaftlicher Differenzierung und der Verbreitung neuer, elektronischer Medien gestaltet sich die Aufrechterhaltung dieses Kontrollanspruchs jedoch immer schwieriger. Dies zeigt sich in “media incidents”, wenn einzelne Medien versuchen, die Grenzen des politisch erlaubten Diskurses auszuloten und sich soziokultureller Brennpunkthemen annehmen. In solchen Fällen — häufig unter Miteinbeziehung von Aktivisten aus dem intellektuellen Milieu, die als Katalysten für grassroots-Probleme fungieren — können zunächst lokal begrenzte Zwischenfälle nationales Gehör finden und in rasantem Tempo die normalerweise stark regulierte Öffentlichkeit erobern.Sind solche Themen — der Autor führt u. a. den Tod eines Studenten in Polizeigewahrsam und den Einzelprotest einer Hausbesitzerin gegen den Abriss ihres Stadtviertels an — erst einmal von anderen Medien und dem Internet aufgegriffen entwickeln sie so viel Eigendynamik, dass die Regierung nur mit Zugeständnissen dem öffentlichen Unmut begegnen kann (die Polizisten wurden bestraft und das Gewahrsamsgesetz geändert; die Hausbesitzerin wurde für den Verlust ihres Eigentums entschädigt). Um weiteren “media incidents” vorzubeugen, werden die involvierten Medien allerdings — häufig mit etwas Zeitverzögerung — in der Regel bestraft. Nichtsdestotrotz sind die “media incidents”, so der Autor, ein wichtiges Mittel der inkrementellen Ausweitung des öffentliches Diskurses in einem autoritären politischen System mit einem der repressivsten Mediensysteme der Welt.
Caos Studie ist reich an Beispielen und empirischem Material, das von eingehender Kenntnis des chinesischen Mediensystems von einer Innenperspektive heraus spricht (der Autor war selbst im chinesischen Staatsfernsehen beschäftigt). Die Struktur des Buches ist allerdings unübersichtlich und zwingt den Leser nach den konzeptuellen Bausteinen von Caos Ansatz zu suchen, die teils weit verstreut über die sechs Kapitel sind.
Der Untersuchungsgegenstand und die theoretischen Perspektiven sind zweifelsohne von großem Potential und versprechen eine innovative Herangehensweise an das eingangs erwähnte Problem, das Funktionieren und Selbstverständnis eines Mediensystems in einem Land mit zunehmend kapitalistischer Wirtschaftsweise und autoritärem politischem Regime. Frustrierend aber ist die mangelhafte sprachliche Kompetenz des Buchs. Der Autor war schlecht beraten, die Studie auf Englisch abzufassen und wurde offensichtlich von seinem Verlag im Stich gelassen, der es nicht für nötig gehalten hat, eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten. Das Buch bleibt über weite Strecken — einschließlich wichtiger konzeptueller Passagen — unklar oder sogar vollkommen unverständlich. Der Versuch, mit der englischsprachigen Fachwelt zu kommunizieren ist begrüßenswert, sollte aber konsequent verfolgt werden. Drei Grammatikfehler im Buchtitel allein sind schlicht problematisch.
Als mutig muss nicht zuletzt der Entschluss des Autors gewertet werden, die existierende Literatur zu seinem Thema komplett zu ignorieren und dieses praktisch als tabula rasa zu behandeln. Die chinesischen Medien sind in den verganegen zwei Jahrzehnten Objekt zahlreicher teils hervorragender Studien gewesen; einen Überblick über diese Literatur gibt McCormick (2003). Die jüngste und umfassendste Studie ist Zhao (2008; siehe auch Zhao 1998), die u. a. viele der von Cao besprochenen “media incidents” eingehend untersucht. Eine Reihe von Sammelbänden herausgegeben von Lee (2003, 2000, 1994) deckt praktisch die gesamte Bandbreite kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen zum Thema China ab. Die Situation der Journalisten und deren strategisches Vorgehen in einem repressiven Mediensystem wurde untersucht von Polumbaum (2008) und de Burgh (2003). Studien von Brady (2008) und Shambaugh (2007) analysieren die Rolle des Staates und der Propagandabehörden im China des 21. Jahrhunderts. Die rechtlichen Rahmenbedingen des Journalismus in China wurden eingehend besprochen von Liebman (2005). Historische Perspektiven des sozialistischen chinesischen Mediensystems schliesslich finden sich bei Schoenhals (1992) und Volland (2004). Bei den genannten Titeln handelt es sich selbstredend nur um die Spitze des Eisbergs. Es bedarf in der Tat einer gehörigen Portion Chuzpe, sich nicht im Geringsten um diese Literatur zu kümmern. Angesichts der Weigerung des Autors, sich mit der existierenden Forschung auseinanderzusetzen, bleibt unklar inwiefern seine eigene Studie einen Beitrag zum Verständnis der Medien in China generall leisten kann und will.
Literatur:
- Brady, A.-M.: Marketing Dictatorship. Propaganda and Thought Work in Contemporary China. Lanham: Rowman & Littlefield, 2008.
- de Burgh, H.: The Chinese Journalist. Mediating Information in the World’s Most Populous Country. London: Routledge, 2003.
- Esser, F.: Die Kräfte hinter den Schlagzeilen. Englischer und deutscher Journalismus im Vergleich. Freiburg: Alber, 1998.
- McCormick, B.: Recent Trends in Mainland China’s Media. Political Implications of Commercialization. In Issues & Studies, 38.4-39.1, 2003, S. 175-215.
- Lee, C.-C. (Hrsg.): China’s Media, Media’s China. Boulder: Westview Press, 1994.
- Lee, C.-C. (Hrsg.): Power, Money, and the Media. Communication Patterns and Bureaucratic Control in Cultural China. Evanston: Northwestern Univ. Press, 2000.
- Lee, C.-C. (Hrsg.): Chinese Media, Global Contexts. London: Routledge, 2003.
- Liebman, B. L.: Watchdog or Demagogue? The Media in the Chinese Legal System. In Columbia Law Review, 105.1 (2005), S. 1-157.
- Polumbaum, J.: China Ink. The Changing Face of Chinese Journalism. Lanham: Rowman & Littlefield, 2008.
- Schoenhals, M.: Doing Things with Words in Chinese Politics. Five Studies. Berkeley: Institute of East Asian Studies, University of California, 1992.
- Shambaugh, D.: China’s Propaganda System. Institutions, Processes and Efficacy. In China Journal 57 (2007), S. 26-58.
- Volland, N.: The Control of the Media in the People’s Republic of China. Dissertation, Universität Heidelberg, 2004.
- Zhao, Y.: Media, Market, and Democracy in China. Between the Party Line and the Bottom Line. Urbana: Univ. of Illinois Press, 1998.
- Zhao, Y.: Communication in China. Political Economy, Power, and Conflict. Lanham: Rowman & Littlefield, 2008.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch Kurze Leine, langer Atem
- Verlagsinformationen zum Buch Media Incidents
Peixin Cao: Media Incidents. Power Negotiation on Mass Media in Time of China's Social Transition. Konstanz [UVK] 2010, 198 Seiten, 24 Euro.Empfohlene ZitierweiseMedienmacht China. von Volland, Nicolai in rezensionen:kommunikation:medien, 3. April 2011, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/4669