Astrid Blome, Holger Böning (Hrsg.): Presse und Geschichte

Einzelrezension
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Rezensiert von Markus Behmer

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Presse und Geschichte – Neue Beiträge heißt eine von Mitarbeitern des Instituts für Deutsche Presseforschung an der Universität Bremen herausgegebene Buchreihe, in der bislang in knapp einem Jahrzehnt bereits 43 Titel erschienen sind. Unter dem Titel Presse und Geschichte sind auch schon 1977 und 1987 zwei Bände in der Vorgängerreihe “Studien zur Publizistik” veröffentlicht worden. Beide vereinten “Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung” und beide gehören immer noch zur Standardliteratur der Pressegeschichtsschreibung, setzten Maßstäbe insbesondere hinsichtlich der Beschreibung des Forschungsstandes zum frühen Druckwesen.

Nun liegt wieder ein Reader zu Presse und Geschichte vor, wieder aus Bremen. Dokumentiert sind in dem fast 500-seitigen Band 24 (für die Drucklegung teils deutlich erweiterte) Vorträge, die 2007 auf einer Tagung aus Anlass des 50. Geburtstages eben des Instituts für Deutsche Presseforschung gehalten wurden.

Der erste Aufsatz – von Mitherausgeber Holger Böning – bietet dann auch einen prägnanten Abriss der Geschichte des Instituts, das als “wunderbarer Ort, der Freiräume bietet, ohne die große Projekte grundlegender Forschung nicht gedeihen können” (18), gefeiert wird. Viele der weiteren Beiträge stammen ebenfalls von ehemaligen oder aktuellen Mitarbeitern des Instituts und bieten Einblicke in manche dieser Projekte. So liefert die zweite Herausgeberin Astrid Blome einen Überblick über die Entwicklung der Intelligenzblätter wie auch ihrer Erforschung und arbeitet luzide deren vielfältige Funktionen und ihre Bedeutung heraus – etwa als “unentbehrliche Wissensspeicher, […] Orientierungshilfe im Alltag ebenso wie […] historische Chronik der Normanwendung” (202). Indem die örtlichen Intelligenzblätter unter anderem die “administrative, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung einer Stadt und einer Region in ihrer historischen Tradition und aktuellen Entfaltung” (207) dokumentierten, hätten sie ein System “völlig neuartiger öffentlicher Kommunikationsstrukturen” (ebd.) begründet und wesentlich dazu beigetragen, erst das “Bewusstsein einer Region” zu konstituieren.

Überblicke über “traditionelle” Schwerpunkte der Bremer Forschung bieten Johannes Weber, Reinhart Siegert und Michael Nagel. Weber beschreibt knapp Forschungsergebnisse und Desiderate zur Nachrichtenpresse im 17. Jahrhundert, Nagel zeichnet die Entwicklung der deutsch-jüdischen Presse im Zeitraum von 1755 bis 1943 nach und zeigt deren mentalitätsgeschichtliche Bedeutung wie auch deren Wandel auf. Und Siegert arbeitet anschaulich heraus, dass Zeitungslektüre bereits im 18. Jahrhundert auch unter einfachen Leuten recht weit verbreitet war und als “Motor der Volksaufklärung” (209) fungierte. “‘Bad News is good news’ – dieser heutige Satz scheint für viele Blätter der Aufklärung nicht zu gelten”, so eines seiner Ergebnisse. “Sie berichten von guten Taten, von fortschrittlichen Gesetzen, von geglückten Neuerungen. Insbesondere regionale Blätter mit starker aufklärerischer Tendenz taten sich darin besonders hervor” (222).

Einblicke in kleinere aktuelle Projekte am Institut für Presseforschung ermöglichen Esther-Beate Körber und Klaus-Dieter Herbst. “Zeitungsextrakte” nennt Körber ihren bislang wenig beachteten Forschungsgegenstand; gemeint sind damit Periodika, die regelmäßig Meldungen aus verschiedenen Zeitungen zusammenstellten und teilweise einordneten. Sie dienten während des gesamten 18. Jahrhunderts vor allem “als Verständnishilfen und Werbemittel für die Zeitungslektüre” (138). Herbst beschäftigt sich mit Kalendern als Medien. Im hier vorliegenden Aufsatz beschränkt er sich auf “große Schreibkalender” (die die Käufer auch als Lesestoff und für tägliche Eintragungen nutzen konnten), ausführlich beschreibt er deren Entwicklung, Inhalte und Funktion und entwickelt ein Programm zur weiteren Analyse.

Interdisziplinarität betont Hölger Böning als ein besonderes Attribut der Bremer Presseforschung – und aus unterschiedlichen Disziplinen kommen auch die Beiträger des Bandes: Literaturwissenschaftler, Linguisten, Historiker und Kommunikationswissenschaftler. Mit letzterer Disziplin wie auch mit ihrer universitären “Vorgängerin”, der Zeitungswissenschaft, geht Martin Welke hart ins Gericht. Kundig beschreibt er (einmal mehr) die Nachrichtenbeschaffung der ersten beiden bekannten Wochenzeitungen, des “Aviso” und der “Relation”, und moniert dabei die “fachliche Inkompetenz der Zeitungswissenschaft” (24) auf dem Felde historischer Presseforschung. Es sei “schlicht nicht nachzuvollziehen, dass die mit derartigen Fehlleistungen belastete Zeitungswissenschaft bzw. die ihr nachfolgende Publizistikwissenschaft/Kommunikationsforschung in der gesamten akademischen Welt noch immer wie selbstverständlich als ‘Heimatdisziplin’ der pressehistorischen Forschung” (ebd.) gelte.

Im vorliegenden Band liefern aber gerade Kommunikationswissenschaftler einige der fundiertesten Beiträge, in denen sie aufzeigen, wie ausgehend von grundlegendem historischen Wissen und in Verbindung mit sozialwissenschaftlichem Methodenrüstzeug neue Ergebnisse zu Tage gefördert und interessante Zusammenhänge erschlossen werden können. So entwickelt Arnulf Kutsch im längsten Aufsatz des Bandes eine umfängliche Perspektive zur Erforschung des “journalistischen Professionalisierungsprozesses in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts” (289-325). Und Michael Meyen fasst drei eigene Forschungsprojekte zu Inhalten, Publikum und Lesererwartungen von Zeitungen in der DDR zusammen und liefert damit erste überzeugende Bausteine zu einer Geschichte der DDR-Presse, die bisherige Vorstellungen etwa von der ausschließlichen Uniformität differenzieren können. Im Schnittbereich zwischen Geschichts- und Kommunikationswissenschaft steht Bernd Sösemann. Hier bietet er Grundzüge und vertiefende Thesen zur Medienlenkung im NS-Staat. Ein Konzept zur weiteren Forschung stellt er exemplarisch anhand der – gescheiterten – Bemühungen Goebbels’ um eine Revision des Reichspressegesetzes dar, die er prägnant und solide quellengestützt nachzeichnet. Weiter skizzieren Rudolf Stöber und Jürgen Wilke jeweils Anliegen, Vorgehensweise wie auch Probleme beim Verfassen ihrer pressegeschichtlichen Überblickswerke.

Der Spannungsbogen des gesamten Bandes reicht von der Frühgeschichte des Druckwesens im 17. Jahrhundert bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, von kleinen Schlaglichtern (etwa von Hans Wolf Jäger über Gustav Freytags Beziehung zum Journalismus oder einer Projektvorstellung zur “digitalen Erfassung der deutschsprachigen Presse im Königreich Ungarn in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts” [435-446]) zu umfassenden Überblicken (etwa auch von Hélène Roussel zur deutschen Exilpresse).

“Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung”, so lautet der Untertitel des Bandes. Deutlich wird im bunten Strauß der (wie stets nicht immer qualitativ gleichwertigen) Aufsätze, dass in den vergangenen Jahrzehnten viel geleistet wurde und viele der thematisierten Forschungsfelder schon gut beackert sind; aber vielfach werden auch Desiderate aufgezeigt, neue Fragen angestoßen, eben Perspektiven offengelegt. Astrid Blome konstatiert zu Recht, dass eine “systematische Würdigung der kommunikationshistorischen Leistungen der Intelligenzblätter” (180) noch ausstehe, Meyen und Kutsch konstatieren ähnliche Defizite für die Erforschung der DDR-Presse respektive der journalistischen Berufsentwicklung, Herbst mahnt weitere Forschung zum Kalender an, Daniel Bellingradt erwartet “wichtige Impulse” aus der Erforschung frühneuzeitlicher Flugdrucke für die “interdisziplinäre Stereotypenforschung” (92), nach Kurt Nemitz könne man aus historischen Beispielen einen “genaueren Einblick in die Arbeitsweise der Regierungssprecher” (281) gewinnen und so fort.

Jeder betont so auch die Bedeutung des eigenen Forschungsgegenstands. Eine breite Palette von Themenfeldern und wissenschaftlichen Zugängen der historischen Presseforschung aufzuzeigen – darin liegt kein kleiner Verdienst des eindrucksvollen Readers.

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Über das BuchAstrid Blome, Holger Böning (Hrsg.): Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung. Reihe: Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 36. Bremen [edition lumière] 2008, 467 Seiten, 44,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseAstrid Blome, Holger Böning (Hrsg.): Presse und Geschichte. von Behmer, Markus in rezensionen:kommunikation:medien, 23. August 2009, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/501
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