Sebastian Ziegaus: Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien

Einzelrezension
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Rezensiert von Jo Reichertz

Einzelrezension
Die Schrift von Sebastian Ziegaus, die als Dissertation bei Michael Giesecke eingereicht wurde, will zweierlei: einen alten Tempel schleifen und einen neuen errichten. Der alte Tempel, der zerstört werden soll, das ist die herkömmliche empirische Sozialforschung (qualitative wie quantitative); sie ruht, so die zentrale These des Buches, auf einem unzureichenden Fundament. Der neue, noch zu errichtende Tempel ist die kommunikative Sozialforschung; sie soll auf dem Kommunikationsmodell von Giesecke (Kommunikation als Informationsverarbeitung, Vernetzung und Spiegelung) ihren festen Halt finden. Die hier verwendete Metaphorik mag dem Leser vielleicht übertrieben erscheinen, doch sie wird dem Anliegen von Ziegaus durchaus gerecht: Er will nicht Kleines, er will Großes erreichen; er will die Sozialwissenschaften neu begründen – auch indem er sie von den Natur- und Geisteswissenschaften absondert, da sie, die Sozialwissenschaften, einen eigenen Gegenstandsbereich hätten (69).

Die Arbeit von Ziegaus versteht sich “als medien- und kommunikationswissenschaftlicher Beitrag zu den methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen der Sozialwissenschaften” (48). Seine Adressaten sind also Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler. Die Ausgangsthese von Ziegaus ist, dass alle bisherige empirische Sozialforschung über ihre kommunikativen Grundlagen und ihre Abhängigkeit von den Medien entweder nichts weiß oder doch sehr wenig. Eine neue Sozialforschung müsse systematisch reflektieren, dass (a) Sozialforschung in jeder Form kommunikativ (da sie Kommunikation kommunikativ erhebt), dass (b) sie immer in Kommunikationsnetze eingebunden und dass (c) sie notwendigerweise mediengebunden sei. Weil die herkömmliche Sozialforschung für die Medien- und die Kommunikationsgebundenheit von Forschung blind sei, müsse es die Aufgabe der Kommunikationswissenschaft sein, hier Aufklärung zu bringen. Nur wenn man deren Ergebnisse in die Forschung mit einspeise, könne Forschung der Komplexität der Welt gerecht werden.

Hinter dieser offenen Normativität steht bei Ziegaus ein (im Buch nicht reflektiertes) Weltbild, demzufolge Forschung so komplex wie die Welt zu sein habe und dass alles, was nicht so komplex ist, der Erforschung der Welt nicht gerecht werden könne und deshalb Forschung mit komplexitätssteigernden Maßnahmen verbessert werden solle. Nützlich hierfür sind: Kommunikation, Reflexion und Vernetzung. Unklar bleibt jedoch letztlich, ob hier von einer konstruktivistischen Position aus argumentiert wird oder ob sich hier ein heimlicher Realismus die Bahn bricht. Vieles spricht für Letzteres.

Leider sind Ziegaus’ Methode – ein “Oszillieren zwischen hermeneutischen, diskurs- und metaphernanalytischen Verfahren” (75) – und auch seine Daten – einige erfolgreiche Einführungsbücher in Methoden – keine guten Fundamente für seine Thesen. Ziegaus ist selbst kein Sozialforscher, hat aber sehr viel Literatur dazu rezipiert. Er liefert einen Blick von außen. Deshalb kommt er auch zu Befunden, die schief oder falsch sind. Denn wenn zum Beispiel in Einführungsbüchern bestimmte Themen nicht behandelt werden, heißt das noch lange nicht, dass sie überhaupt nicht diskutiert werden.

Auch ersetzt Ziegaus gelegentlich Argumente durch schlechte Rhetorik. So schreibt er: “Seitdem es üblich geworden ist, Gesellschaft und generell soziale Systeme als informationsverarbeitende Systeme zu verstehen, verlieren mechanische und hermeneutische Ansätze in der Sozialforschung an Bedeutung bzw. erweisen sich als weniger geeignet, soziale Entwicklungen beschreiben und verstehen zu können” (357). Dem ist zu entgegnen: Zum einen ist es nicht “üblich” geworden, soziale Systeme als informationsverarbeitende Systeme zu verstehen; zum anderen fragt sich, weshalb das Übliche richtig sein sollte.

Alles in allem ist die Arbeit von Ziegaus ohne Zweifel originell und sehr anregend. Das Buch verarbeitet sehr viel Literatur, und die Kernthese, dass die Sozialforschung (zu) wenig über ihre kommunikativen und medialen Grundlagen weiß, ist weitgehend richtig. Hier hat die Sozialwissenschaft noch viel zu leisten. Zutreffend ist auch, dass die Kommunikationswissenschaft gefordert ist, sich an der Debatte über die Grundlagen empirischer Forschung zu beteiligen. Das Verdienst von Ziegaus besteht darin, sehr deutlich darauf hingewiesen zu haben. Deshalb ist das Buch von Ziegaus sowohl für Sozialwissenschaftler als auch für Kommunikationswissenschaftler zu empfehlen.

Über das BuchSebastian Ziegaus: Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien. Grundlagen einer kommunikativen Sozialforschung. Reihe: Sozialtheorie. Bielefeld [Transcript Verlag] 2009, 402 Seiten, 39,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseSebastian Ziegaus: Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien. von Reichertz, Jo in rezensionen:kommunikation:medien, 4. Oktober 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/2291
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