Volker Lilienthal (Hrsg.): Sagen, was ist

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Rezensiert von Beatrice Dernbach

Einzelrezension

Beginnen wir am Schluss. Was haben Rudolf Augstein und Heinrich Heine gemeinsam? Der Senator für Kultur und Medien in Hamburg, Carsten Brosda, schreibt: Sie teilen ihre Vorstellung von der freien Meinungsäußerung. Sie “haben geschrieben, um eine Gesellschaft daran teilhaben und davon lernen zu lassen” (251). Das taten sie in der Hoffnung, “demokratische Wirkung zu entfalten” (ebd.). Für Brosda hat Augsteins Motto “Sagen, was ist” zwei Dimensionen: Fake und Fakten müssen klar unterscheidbar sein – dafür müssen journalistische Medien eintreten. Und der Journalismus muss das gesellschaftliche Gespräch wieder stärker moderieren, um die “fragmentierten Foren digitaler Öffentlichkeiten” zusammenzuführen (250). 

Das ist Tenor und Leitmotiv eines Bandes über den Gründer und Chefredakteur des Magazins Der Spiegel, Rudolf Augstein. Wie würde er die Entwicklung des Journalismus bis heute bewerten und für die Zukunft voraussagen? Würde er sich im Grab rumdrehen? Sich abwenden? Würde er angesichts der Digitalisierung der Medien, der Fragmentierung des Publikums, der Erosion des Vertrauens in politische Akteure und deren Entscheidungen, angesichts von Fake News und Shitstorms die Ärmel hochkrempeln? Würde er zum Sturm blasen gegen die Bedrohung des Journalismus und für seinen Schutz kämpfen?

Der Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur an der Universität Hamburg, Volker Lilienthal, hat 14 Autorinnen und Autoren eingeladen, sich darüber Gedanken zu machen. Der Band besteht weitgehend aus Vorträgen, die während der Ringvorlesung “Augstein Lectures” anlässlich seines 100. Geburtstages im Wintersemester 2023/2024 gehalten wurden. Nicht immer ist die Verschriftlichung von Erzähltem besonders lesenswert im Sinne von unterhaltend und erkenntnisreich. Aber alle eint, sich aus der jeweiligen Perspektive mit dem Motto des “Aufklärers” und der “Leitfigur der deutschen Pressegeschichte” (Lilienthal in seinem Vorwort) zu beschäftigen. Spitz angemerkt sei an dieser Stelle, dass zu den Autorinnen und Autoren vor allem Ältere, Erfahrene und durchaus Prominente gehören, die Augstein erlebt haben. Die Jüngeren sind an einer Hand abzählbar, blicken auch schon aufs vierte Lebensjahrzehnt zurück und kennen Augstein nur aus Erzählungen. 

Den Aufschlag macht Augstein Tochter Franziska. Sie modelliert das Leit-Motiv zu “Herausfinden, was ist”. Sie fokussiert dabei auf die Haltung des Vaters, den Inhabern von Macht auf die Finger zu schauen. Diese Kritik helfe, die Institutionen langfristig zu schützen (25). Rudolf Augstein sei “kein Theoretiker des Journalismus” gewesen; sein “aufmunterndes Motto” beziehungsweise das Credo aus drei Worten “besagen nicht sehr viel” (27). Seine Stärke hingegen war der Kommentar. Damit wollte er einerseits überzeugen, andererseits unterhalten – denn auch die Unterhaltung gehörte “zu seiner Haltung” (37).

Springen wir zum Beitrag des Politikwissenschaftlers Albrecht von Lucke (115-131). Er klärt zunächst darüber auf, dass Augstein nicht der Erfinder des Mottos “Sagen, was ist” sei, sondern Rosa Luxemburg, die sich wiederum auf den sozialistischen Politiker Ferdinand Lassalle berief. Zudem sei der Appell auch nicht die (!) Maxime des Spiegel gewesen. Von Lucke räumt mit einigen weiteren “Legenden” auf und seziert sehr klug und lesenswert den politischen Rechtsdruck nach Jahrzehnten der “sozialliberalen Hegemonie”. Heute dominiere “rechtes Denken” die neuen digitalen Medien, die ein Ausdruck des “fundamentalen technisch-medialen Strukturwandels der Öffentlichkeit” seien (116). Luckes Aufruf: Journalismus nicht gegen, sondern für etwas machen! (130)

Quer durch alle Essays ziehen sich die Varianten des Titels: “Ertragen, was ist” (Nicole Diekmann), “Sagen, was nicht ist. Und sagen, was wir nicht wissen” (Armin Wolf), “Sagen, was wird” (Christian Stöcker), “Sagen, was ist – auch nach innen” (Melanie Amann). Die stellvertretende Chefredakteurin des Spiegel, Melanie Amann, diskutiert eine weitere Formel: “Sagen, was ist. Auch, wenn keiner zuhört?” (133). Sie greift viele Schlagworte auf wie Populismus, Vertrauen, Integration, Diversität, (interne) Diskussionskultur und viele mehr. Das Überzeugende daran ist, dass sie die Probleme nicht (nur) anderen Akteuren zuweist, sondern (selbst-)kritisch nach innen, in die Spiegel-Redaktion, guckt.

Besonders lesenswert sind die Beiträge derjenigen, die immer wieder von außen den Blick auf Deutschland und den deutschen Journalismus richten. Neben Anton Troianovski (Moskau-Korrespondent der New York Times) tun dies Georg Mascolo (u.a. Mitbegründer des Netzwerkes Recherche), Sonia Seymour Mikich (ehemalige TV-Korrespondentin und WDR-Intendantin) und besonders Isabel Schayani (u.a. Weltspiegel-Moderatorin). Letztere setzt sich eindrucksvoll mit der Frage auseinander, ob und wie viel Empathie der Journalismus aus Krisen- und Kriegsgebieten verträgt. An konkreten Beispielen beschreibt sie den Unterschied zwischen mitfühlen und mitleiden. Zu starke Betroffenheit “vernebelt das Gehirn” (149), Empathie könne aber “auch ein willkommener Vorwand für Selbstzensur sein” (151), im Sinne von nicht-genau-Hinsehen. Empathie hat unterschiedliche Grade, je nachdem, ob es die Journalistin mit Politikern und Medienprofis oder mit Gewaltopfern zu tun hat. Ihr Fazit: “Die Empathie sollte wohl dosiert sein!” (165) Das könnte auch für einen anderen Aspekt ähnlich formuliert werden, der in mehreren Beiträgen anklingt: Wie viel Aktivismus passt zu einem unabhängigen, neutralen Journalismus?

Die Zukunft? Ist unter anderem gekennzeichnet von Künstlicher Intelligenz (Christina Elmer), Beschleunigung (Christian Stöcker) und Klimawandel (Wolfgang Blau). Dafür gilt es, entsprechende Kompetenzen in den Redaktionen zu verankern, um die Hauptaufgabe – Orientierung zu geben – angemessen erfüllen zu können. Das Schlusswort hat Christina Elmer: Augsteins Motto “transportiert eine Klarheit und Unaufgeregtheit, die Journalist*innen auch im Umgang mit den neuen Technologien definitiv hilft” (237) – auch wenn es bisweilen an der Klarheit der künftigen Entwicklungen mangelt. Derzeit kann wohl niemand sagen, was wird.

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Über das BuchVolker Lilienthal (Hrsg.): "Sagen, was ist". Journalismus für eine offenen Gesellschaft - Rudolf Augstein zum 100. Geburtstag. Köln [Herbert von Halem] 2024, 264 Seiten, 28,- EuroEmpfohlene ZitierweiseVolker Lilienthal (Hrsg.): Sagen, was ist. von Dernbach, Beatrice in rezensionen:kommunikation:medien, 18. Juli 2025, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/25580
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