Kay Hoffmann, Richard Kilborn, Werner C. Barg (Hrsg.): Spiel mit der Wirklichkeit

Einzelrezension
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Rezensiert von Ulrike Schwab

Spiel mit der Wirklichkeit_onlineEinzelrezension
Das Buch befasst sich mit einer Entwicklung, die seit den frühen 1990er Jahren rasant fortschreitet und von Medienwissenschaftlern und Feuilletonautoren beobachtet und hinterfragt worden ist: die Auflösung der Grenzen zwischen faktischer und fiktionaler Darstellung im Programmangebot von Fernsehen und Kino. Die vorliegende Bestandsaufnahme zur Entstehung neuer, ‘hybrider’ Formate geht überwiegend von den Bedingungen der deutschen Medienlandschaft aus und bezieht die britische Perspektive mit ein. Zu Wort kommen Medienwissenschaftler und Medienproduzenten – die Beiträge umfassen also die wissenschaftliche Analyse und den Praxiskommentar.

Die Herausgeber Kay Hoffmann, Richard Kilborn und Werner C. Barg stellen die negative Hypothese voran, dass bei bestehenden und neuen audiovisuellen Formaten eine klare Definition hinsichtlich ihrer dokumentarischen oder fiktionalen Zugehörigkeit kaum mehr möglich sei. Sie werten die beobachtete Intransparenz implizit als Verlust und geben ihrem Buch die Zielrichtungen: Annäherung an Begrifflichkeiten und Aufzeigen der Veränderungen im Umgang mit der Wirklichkeit.

Die einführenden Artikel beschreiben fiktionalisierende Trends beim Dokumentarfilm (Kay Hoffmann, Richard Kilborn), mediengeschichtliche Stationen des Dokumentarfilms, die das Unschärfe-Problem durchgängig bezeugen (Kay Hoffmann), sowie Fälle betrügerischer und durchschaubarer Dokumentarbehauptung (Kay Hoffmann). An diesem Punkt, wo sich der Fokus des Buches direkt auf das “Spiel mit der Wirklichkeit” richtet, würde es sich empfehlen, die Modellierungsebene der ‘Medienrealität’ einzubinden, die eine Grundgegebenheit der Medienproduktion und -rezeption bezeichnet. Durch diesen (theoretischen) Zwischenschritt könnte der diffundierende Diskurs zur Abgrenzung auf die relevante Bezugsgröße des Publikums zugespitzt und der Argumentation zu Fragen der Ästhetik und der Ethik eine gesicherte Basis gegeben werden.

Ein deutliches Plus des Buches ist es, dass alle älteren und neuen Formtypen, die die dokumentarisch-fiktionale Doppelnatur aufweisen, zusammengeführt und präzisiert werden, seien sie aktuell gebunden oder spezifisch historisch. Martina Döcker konturiert Ausprägungen des Dokumentarfilms, indem sie systematisch den Entstehungsanlass, die Zeitbedingtheit der Produktion und die Macher-Intention zugrundelegt. Kay Hoffmann legt dar, wie aus der Begegnung von Dokumentarfilm und Animation eine mehr dem Kino affine neue Kunstform erwachsen ist. Auch auf die Schnelllebigkeit der neuen Formate wird verwiesen. Jeannette Eggert stellt die Dokusoap vor, die als markterprobtes Genre der angloamerikanischen Länder auch bei deutschen Fernsehsendern ausgedehnt Fuß fasste, ihren Anspruch auf Ursprünglichkeit der Protagonisten und Milieus aber nicht lange einlöste und auf dramatisch kalkulierte Personenschau und Handlungsakzente zurückgegriffen hat.

Zwei Beiträge nehmen die sendetechnologisch-ökonomische Transformation des Massenmediums Fernsehen am Beispiel Großbritanniens in den Blick und beleuchten die Mechanismen hinter der Flut neuer Formate und Formmerkmale. Anhand des Geschichtsfernsehens vollzieht Dafydd Sills-Jones eine wirtschaftlich-kommerziell bedingte Entwicklung nach: die Verdrängung vieler unabhängiger kleiner Produzenten durch einzelne Großunternehmen, die Konkurrenz der Großen um die Maximierung des Publikums, den Vorrang höchst aufwändiger, global verkäuflicher Serienproduktionen und die fortschreitende Unterwerfung historischer ‘Stoffe’ unter die Regeln des Dramas.

Ähnlich strukturiert Richard Kilborn den Mammut-Komplex der ‘Fakten-Unterhaltung’ im modernen Fernsehen und konstatiert die imperative Nutzung der wechselseitigen Potenzierungswirkung, die das Dokumentarische und das Dramatische aufeinander ausüben. Matthias Steimle macht auf ein Defizit aufmerksam: Im bundesdeutschen Fernsehen werde die DDR-Zeit zwar im Kanon der nationalen Großthemen mitgeführt, aber einseitig präsentiert als Dauerkrise. Werner C. Barg setzt den auch hierzulande anhaltenden Sog des Reenactments in Beziehung zu dessen Anfängen. Das Regisseur-Duo Heinrich Breloer/Horst Königstein habe das Genre des Doku-Dramas begründet und maßgeblich definiert. Neben der präzisen, ausgedehnten journalistische Recherche zum Thema beruhten die Spielszenen ausschließlich auf den Aussagen von Zeitzeugen. Ihre Machart signalisiere dem Zuschauer den Wechsel vom dokumentarischen in den dramatischen Modus.

Ein klares Verdienst des Buches bilden die eingestreuten Interviews. Führende Fernsehmacher des deutschen und britischen Raumes wurden nach ihren Arbeitszielen und Praktiken befragt und gaben eingehende Antworten. Wie Carl Bergengruen und Manfred Hattendorf (SWR) bekunden, ist die Unterscheidbarkeit von dokumentarischer und fiktionaler Gattung weiterhin gegeben. Spezialität ihrer Spielfilmabteilung sei der Spielfilm, der wichtig gewordene gesellschaftliche Themen aufgreife und die im Wirklichkeitsausschnitt vorfindliche Brisanz in der medialen Verarbeitung als Spannung wiedergebe. Uwe Kersken (Gruppe 5 Köln) bekennt sich zur international gefragten Mischform aus Reenactment mit Schauspielern, computergenerierten Bildern und Dokumentaranteilen sowie zur Geschichte der Großen. Auf das Doppelungskonzept beim historischen Eventfilm muss Nico Hofmann (teamWorx) erwidert werden, dass Detailgenauigkeit und Historiker-Expertise einerseits und rein fiktionaler Plot andererseits noch keinen historisch aussagekräftigen Film ergeben. Die Leiter der ZDF-Geschichtswerkstatt stellen den Begriff ‘Doku-Fiction’ als solchen in Frage. Das Dokumentarische sei gegeben, wenn es “allein von der Quantität her im Vordergrund steht”, so Guido Knopp, und “Inhalte, Personen und Handlungsstränge auf dokumentierbarem Wissen beruhen”, so Stefan Brauburger. Demgegenüber ist für Spiegel-TV Hamburg und die Abteilung ‘History’ der journalistische Ansatz oberstes Gebot und die Konzeption vierstündiger Dokumentationen ein Programmspezifikum. Michael Kloft hält ein Reenactment für tragbar, das auf Schlüsselszenen begrenzt und durch Akten belegbar ist. Marc Brasse bejaht den Einsatz digitaler Visualisierung, wenn dieser historisch bzw. wissenschaftlich ausgeführt werde. Unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet Taylor Downing (Flashback TV/History) die veränderte Fernsehdarbietung von Geschichte. Er begrüßt es, dass durch Reenactment andere, bisher verschlossene Themenbereiche zugänglich würden. Da es aber die ureigene Bestimmung von Geschichte sei, erzählt zu werden, solle sie nicht ständiger Formerneuerung und Hinzu-Erfindung ausgesetzt sein.

Das Buch gibt Medienexperten und interessierten Laien mit den Beiträgen zu den Hybrid-Formaten und den Auskünften der Macher guten, vielfältigen Aufschluss zur Thematik. Das Phänomen der Annäherung zwischen dokumentarischem und fiktionalem Pol aber konnte auf diesem Wege nicht wirklich erhellt werden. Um die Gemengelage des zentralen Problems zu sondieren, müsste beim Bezug auf die hybriden Medienangebote erst einmal zwischen der Gestaltungsebene und der Content-Ebene unterschieden werden.

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Über das BuchKay Hoffmann, Richard Kilborn, Werner C. Barg (Hrsg.): Spiel mit der Wirklichkeit. Zur Entwicklung doku-fiktionaler Formate in Film und Fernsehen. Konstanz [UVK] 2012, 428 Seiten, 34,- Euro.Empfohlene ZitierweiseKay Hoffmann, Richard Kilborn, Werner C. Barg (Hrsg.): Spiel mit der Wirklichkeit. von Schwab, Ulrike in rezensionen:kommunikation:medien, 8. November 2013, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/14785
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