Paddy Scannell: Medien und Kommunikation

Einzelrezension
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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension
An deutschsprachigen Einführungen in die Kommunikations- und Medien- wissenschaft (wie immer man diese Disziplinen unterscheidet) besteht hier zu Lande kein Mangel, auch die Titelelemente “Medien” und “Kommunikation” sind entgegen der Behauptung von Scannell (332) schon vielfach verwendet, etwa besonders publik vom Funkkolleg Medien und Kommunikation (1990ff). Da bestätigt sich erneut die oft schon beklagte ungenügende Vernetzung der europäischen Sozialwissenschaften. Meist behandeln diese Einführung systematisch Themen, Untersuchungsfelder und Forschungsbefunde von Kommunikation und Medien oder sie verfolgen chronologisch die einschlägige Fachgeschichte(n) nationaler, weniger internationaler Bandbreite.

Was diese “Einführung” für Studierende (7) des “führenden englischen Kommunikations- und Medienwissenschaftlers” (so der Klappentext), der seit 2006 an der University of Michigan “Communication Studies” lehrt, von ihnen unterscheidet, ist die allgemein-, mindestens kulturgeschichtliche Verankerung der Darstellung, die biografische Kontextuierung zentraler Werke, die weit über die übliche Kommunikations- und Medienwissenschaft hinausreichen, sowie die Fokussierung auf bedeutende Forscherpersönlichkeiten vor allem in den USA, Großbritannien und zuletzt Deutschland vornehmlich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Herausgeber von der Universität Bremen loben diese Vorgehen als seltene “Narration”, mithin eine “Erzählung von der Geschichte der Kommunikations- und Medienwissenschaft” (7), und in der Tat, erfährt man vieles, Persönliches wie Fachgeschichtliches, wie es sonst nicht aufgedeckt wird. Da spart der Autor auch nicht an persönlichen Wertungen und Positionen. Seine allgemeingeschichtlichen Einlassungen, aber auch die über manche Disziplinen, etwa über die Literaturwissenschaft und ihre Entstehung, lassen sich aus deutscher Sicht nicht teilen. Was diese Einführung mithin nicht leistet, ist ein systematischer, möglichst umfassender Überblick zum Untersuchungsfeld ‘Medien und Kommunikation’ und sie ist auch keine möglichst erschöpfende Darstellung der Forschung (wie Scannell am Ende mehrfach einräumt), vielmehr ist es eine recht subjektive, positiv formuliert: eine paradigmatische Auswahl.

Geleitet wird sie, wie Scannell auch am Ende noch resümiert, von seiner Einschätzung der westlichen Nachkriegsgeschichte, die er in zwei große Phasen oder Paradigmen gliedert: die des Sozialen in den 1930er Jahren mit Urbanisierung, Proletarisierung, Verelendung und Massenarbeitslosigkeit, die zur Entdeckung von Gesellschaft und Masse führte, die Soziologie und – mit der Verbreitung des Hörfunks – die “Soziologie der Massenkommunikation” aufbrachte. Sie fragte nach dem “direkten und starken Einfluss [des Radios] auf die scheinbar machtlosen Massen”, der “Mass Persuasion” (309), wie sie exemplarisch bei der Panik anlässlich der Radioshow “The Invasion from Mars” (1939) zum Ausdruck kam: Lazarsfeld, Merton, das Frankfurter Institut im amerikanischen Exil, Brecht, Benjamin, Riesman und Katz werden als theoretische und empirisch forschende Protagonisten des “Massenzeitalters” angeführt und ihre zentralen Werke vorgestellt.

Mit dem wachsenden Wohlstand und mit der Befriedung der sozialen Konflikte in der Nachkriegszeit rücken das Kulturelle, die Kommunikation, der Alltag und – mit dem Aufkommen des Fernsehens – die Medien in den analytischen Fokus der Wissenschaften. In Großbritannien sind es Leavis, Hoggart und Williams, die ersten Vertreter der später so genannten cultural studies, in Kanada Innis und McLuhan mit ihren großen Entwürfen der Mediengeschichte sowie in Großbritannien Goffman und Garfinkel mit Konzepten interaktiver, ethnomethologischer Soziologie, die Scannell auswählt. Schließlich folgt in den 1960er und 1970er Jahren als letztes Paradigma, gewissermaßen als theoretische Synthese, das Label ‘Kommunikation’: die Sprechakttheorie und Konversationsanalyse in Großbritannien von Austin, Grice, Sacks und Levinson, das Decoding/Encoding-Modell von Hall und in Deutschland Habermas’ Öffentlichkeitsstudie sowie seine Theorie des kommunikativen Handelns. Und damit endet die Einführung recht abrupt.

Wer in jenen Tagen studiert hat, trifft mithin erneut auf die damals diskutierten und als paradigmatisch angesehenen Werke; für heutige Studierende mögen sie als retrospektiver Background sicherlich von Interesse sein, aber viele neuen Entwicklungen können sie nicht erfassen und erklären – zumal ‘Medien’ , bis auf wenigen Fallstudien zu ‘Radio Talks’, meist nicht im Fokus stehen. Für detailliertere Radio-Forschungen vertröstet Scannell auf zwei weitere Bände dieser als Trilogie geplanten deutschen Ausgabe; den ersten Band versteht er gewissermaßen als theoretische Grundlegung.

Ohne Frage: aus dem Fundus einer langen, vielfältigen, einschlägigen Lehrtätigkeit hat Scannell ein glänzendes, facettenreiches, (biografisch) anschauliches und zugleich pointiertes Porträt (englische Ausgabe: 2007) der Sozial- und Kulturwissenschaften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in Großbritannien und den USA vorgelegt, das sicherlich einige theoretische Fundamente einzieht und Traditionen aufzeigt. Es liest sich auch angenehm. Aber eine aktuelle Einführung in die Kommunikations- und Medienwissenschaft ist es nicht.

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Über das BuchPaddy Scannell: Medien und Kommunikation. Herausgegeben und eingeleitet von Matthias Berg und Maren Hartmann. Reihe: Wiesbaden [VS Verlag] 2011, 361 Seiten, 29,95 Euro.Empfohlene ZitierweisePaddy Scannell: Medien und Kommunikation. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 3. Dezember 2011, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/7120
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