Sabine Horn: Erinnerungsbilder

Einzelrezension
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Rezensiert von Elke Grittmann

Einzelrezension
Am 12. Mai 2011 wurde der ehemalige KZ-Wachmann John Demjanjuk vom Münchner Landgericht II zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Juden im Vernichtungslager Sobibor verurteilt. Rund 70 Jahre nach dem Holocaust hat auch dieser NS-Prozess noch einmal eine breite mediale Aufmerksamkeit gefunden. Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch die Justiz stellt nicht nur eine wichtige Quelle für die Geschichtswissenschaft dar, gerade durch die Thematisierung der Prozesse in Beiträgen und Sendungen haben die Medien immer wieder Öffentlichkeit hergestellt und damit das Bild über die NS-Vergangenheit mit geprägt (vgl. Osterloh/Vollnhals 2011). Mit der vergleichenden Untersuchung der Berichterstattung über den Auschwitz-Prozess 1963-1965 (Frankfurt a. M.) und den Majdanek-Prozess 1975-81 (Düsseldorf) im westdeutschen Fernsehen bietet die Historikerin Sabine Horn einen weiteren Einblick in die Wahrmehmung und Ausdeutung der großen Komplexverfahren in den Medien. Horn geht der Frage nach, welche dominante Lesart das Fernsehen von den Prozessen angeboten und wie sich diese Darstellung gewandelt hat. Ihr Interesse gilt dabei insbesondere der visuellen Ebene, den Erinnerungsbildern.

Die Autorin hat eine in mehrfacher Hinsicht erkenntnisreiche Arbeit vorgelegt. Das liegt nicht nur daran, dass hier Fernsehbeiträge untersucht wurden, die aufgrund der schwierigen Materialbeschaffung seltener Gegenstand der Forschung sind als die Presseberichterstattung. In der kommunikationswissen­schaftlichen Forschung hat die mediale Verarbeitung dieser Prozesse relativ wenig Beachtung gefunden (vgl. z. B. Wilke/Schenk/Cohen/Zemach 1995). Auch in der Medien- und Geschichtswissenschaft galt das Hauptinteresse in den letzten Jahren eindeutig Inhalten, Ästhetik und Narrativen der aktuellen populären Genres des Geschichtsfernsehens und insbesondere der eventorientierten Dokudramen (vgl. z. B. Ebbrecht 2007; Fischer/Wirtz 2008; Keilbach 2008).

Horns Arbeit beginnt mit der schlüssigen, kritischen Zusammenführung der aktuellen Theorien. Sie entwickelt aus dem sehr komplexen kulturwissenschaftlichen Theoriegebäude zu kollektivem Gedächtnis und Erinnerungskultur stringent einen überaus überzeugenden Ansatz, um die Rolle des Mediums Fernsehens für das kollektive, kulturelle und kommunikative Gedächtnis zu bestimmen. Darüber hinaus knüpft Horn an die Cultural Studies an, um medial vermitteltes “soziales Wissen” in den gesellschaftlichen Kreislauf der Bedeutungskonstruktion einzuordnen. Doch geht es Horn nicht allein um Wissen, sondern auch um die gestalterische und narrative Ebene. Ihr Ansatz überzeugt auch deshalb, weil die Autorin theoretische Positionen stets kritisch hinterfragt, um daraus erst offene Forschungsfragen zu generieren. Das trifft Assmanns Erinnerungskulturmodell (21f.) ebenso wie die Frage, ob die Medien nur einfach darstellen oder selbst aktiv prägen (28f.). Der kritische Überblick über Forschungsstand, die Prozesse und ihren historischen Rahmen schließen die theoretischen Kapitel ab.

Im Mittelpunkt der Analyse stehen die aufgrund der schwierigen Materialbeschaffung letztlich verfügbaren eigenständigen Filme und Nachrichtenbeiträge, die von ARD, ZDF und den dritten Programmen NDR, WDR und HR über die Prozesse gesendet wurden. Der Quellenkorpus besteht aus 28 Dokumentationen, Features, Magazin- und “Regionalbeiträgen” sowie 60 Nachrichtenbeiträgen des ZDF (73). An dieser Stelle hätte man sich eine Vorstellung der Filme und der verfügbaren Produktionsdaten gewünscht; einzelne und daher ungeordnete Informationen sind nur vertreut in der qualitativen Analyse nachlesbar. Die Dauer der Beiträge nach Genres lassen sich immerhin im Anhang finden (255ff). Es überrascht dann doch, dass über den Auschwitzprozess in ARD, ZDF und den Regionalprogrammen in knapp zwei Jahren gerade einmal annähernd drei Stunden berichtet wurde (ohne Nachrichtenbeiträge) und wohl nur ein einziger Film (Die letzte Station – Auschwitz, rund 23 min, ZDF 11.1.1964) bundesweit gesendet wurde.

Methodisch hat Horn eine Kombination von qualitativen und quantitativen Verfahren gewählt. Aus der explorativen Sichtung des Materials entwickelt Horn fünf Hauptuntersuchungs-“Kategorien”: Täter, Opfer, Prozesse, Geschichte und Reflexion, die im Weiteren quantitativ und qualitativ untersucht werden. Die Wahl einer quantitativen Inhaltsanalyse ist nicht nur ungewöhnlich, auch die Darstellung ist etwas unorthodox gelöst (105ff.). Anhand der Auswertung, welche Personengruppen und Ereignisse welche Aufmerksamkeit erhielten, zeigt sich ein deutlicher Wandel von einer stärkeren Täterpräsenz in den frühen Filmen zu einer stärkeren Beachtung der Opfer in den 1970er Jahren, wurde über die Geschichte zunächst noch aufgeklärt, so stand später der Umgang und die Aufarbeitung selbst zur Diskussion (121).

Die folgende qualitative Analyse der Filme eröffnet dann einen detaillierten Blick in die Darstellungsstrategien, den Wandel der Inhalte, der Ikonografie und des Umgangs mit der Vergangenheit. In den Visualisierungsstrategien werden die vorgegebenen Lesarten, die Sujektivierung der Opfer (181) oder Anthropologisierung der Täter (154ff.) besonders deutlich. Dabei knüpft auch die Fernsehberichterstattung an eine bereits etablierte Bildikonographie des Holocaust an. Zwar geht Horn nicht explizit auf die Produktionsbedingungen der Beiträge ein, anhand des Vergleichs der verschiedenen filmischen Ebenen zeigt sich jedoch ein deutlich kritischerer Umgang in den 1970er Jahren, den die Autorin mit der Entwicklung des investigativen Journalismus erklärt (171). Stellten die Berichterstattung und Dokumentationen im Auschwitz-Prozess visuell und sprachlich noch “Imitationen” juridischer Argumentation nach, z. B. durch das “forensische Erzählen” (151), so lösen sich die Medien im Majdanek-Prozess davon, um eigene (visuelle) Narrative zu entwickeln (169f.).

Dass die mediale Aufmerksamkeitslogik weniger von historischem Bewusstsein als vielmehr von Selbstreferenzialität geprägt war, zeigt auch Horns genaue zeitliche Rekonstruktion der Thematisierung des Prozesses: Nachdem in den heute-Nachrichten lediglich im November 1975 über die Eröffnung des Majdanek-Prozesses berichtet worden war, griffen sie das Thema erst über drei Jahre später wieder auf, und zwar genau zwei Tage nach Ausstrahlung des ersten Teils der fiktionalen Serie Holocaust.

Der diskursiven Darstellung der Autorin entlang der gewählten Kategorien ist manchmal schwer zu folgen. Aber gerade die Vielschichtigkeit der Untersuchungsperspektiven und Kontextualisierung der genauen Analyse zeichnen diese Studie aus. Sie ist für alle lesenswert, die sich mit Erinnerungskultur und Geschichte in den Medien beschäftigen

Literatur:

  • Fischer, T.; R. Wirtz (Hrsg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen. Konstanz [UVK] 2008.
  • Keilbach, J.: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im Bundesdeutschen Fernsehen. Münster [LIT Verlag] 2008.
  • Osterloh, J.;C. Vollnhas (Hrsg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR. (Schriftenreihe des Hannah-Arendt-Instituts, Bd. 45). Göttingen [Vandenhoek & Ruprecht] 2011.
  • Wilke, J.; B. Schenk; A. A. Cohen; T. Zemach: Holocaust und NS-Prozesse. Die Berichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr. Köln u.a. [Böhlau] 1995.
  • Ebbrecht, T. (2007): History, Public Memory and Media Event. In: Media History,13, 2, S. 221-234.

Links:

Über das BuchSabine Horn: Erinnerungsbilder. Auschwitz-Prozess und Majdanek-Prozess im westdeutschen Fernsehen. Essen [Klartext Verlag] 2010, 300 Seiten, 39,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseSabine Horn: Erinnerungsbilder. von Grittmann, Elke in rezensionen:kommunikation:medien, 4. Dezember 2011, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/6771
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