Stefan Andreas Keller: Im Gebiet des Unneutralen

Einzelrezension
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Rezensiert von Roger Blum

Einzelrezension
Die Schweiz wurde vom Dritten Reich bedroht, aber nicht erobert. Sie war 1940-1945 zwar vollständig von faschistischen Ländern umschlossen und in den Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich und moralisch verwickelt, nicht aber militärisch. Jedenfalls sah sie sich veranlasst, die Medien seit 1934 beschränkt, seit 1939 umfassend zu zensurieren. Während die Pressezensur seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts thematisiert und wissenschaftlich untersucht wurde, blieb die Buchzensur lange unbeachtet. Jetzt legt der Zürcher Stefan Andreas Keller, der heute als e-Learning-Koordinator an der Universität Zürich tätig ist, mit seiner  historischen Dissertation erstmals eine gründliche Untersuchung vor.

Keller arbeitet diskurstheoretisch, gestützt auf Foucault und Bourdieu. Er sieht Zensur als konstitutiven Bestandteil der Kommunikation. Es gebe keine zensurfreie Gesellschaft, keinen zensurfreien Diskurs, und der Selbstzensur komme eine große Bedeutung zu. In der Schweiz diente die Zensur, so der Autor, vor allem der Durchsetzung des “schweizerischen Standpunkts”, der maßvollen Äquidistanz zu allen Konfliktparteien, der “geistigen Landesverteidigung”, die als Abwehr galt gegen die Überfremdung sowohl von Kommunisten wie von Juden, von Nationalsozialisten wie von Anhängern einer Weltordnung, die auf Nationalstaaten verzichten wollte. Die Zensur sei als notwendiges Übel betrachtet worden, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu bewahren und damit die Pressefreiheit zu retten. Letztlich wurde alles unterdrückt, was Hitler-Deutschland hätte ärgern können. Gleichzeitig widerstand man dem nationalsozialistischen Ansinnen, die außenpolitische Neutralität in eine Gesinnungsneutralität zu verwandeln.

Interessant war, wie die Zensur organisiert wurde. Grundsätzlich ging sie von der Armeespitze aus; sie wurde aber bald an das Justiz- und Polizeiministerium übertragen, und für die faktische Durchführung war die Abteilung Presse und Funkspruch (APF) zuständig, ein Dienst von Milizsoldaten, der aus Fachleuten der betroffenen Berufszweige bestand. Dort gab es die Sektion Buchhandel. An deren Spitze stand der Berner Verleger Herbert Lang. Über seine Netzwerke rekrutierte er die übrigen Zensoren und rund 50 Bücherexperten, vor allem Verleger, Schriftsteller, Hobby-Literaten, Journalisten und Professoren meist bürgerlicher Gesinnung. Diese schrieben unzählige Gutachten zu den zu prüfenden Schriften, oft mehrere zu einem einzelnen Werk. Die Schweizer Buchzensur hat zwischen 1939 und 1945 insgesamt 5315 Schriften behandelt.

Von diesen nahm Keller in seiner Dissertation 750, also 15 Prozent, unter die Lupe. Er untersuchte erstens Schriften, die die Souveränität der Schweiz tangierten, weil sie eine Neuordnung Europas diskutierten, zweitens Publikationen zum Antisemitismus und Holocaust, drittens belletristische Werke und viertens wissenschaftliche Schriften.

Grundsätzlich waren die Zensurexperten gegenüber allem, was nicht auf der Linie des “schweizerischen Standpunkts” der Neutralität, der Zurückhaltung, der staatlichen Unabhängigkeit, des Nachvollzugs und der demokratischen Tradition lag, skeptisch bis ablehnend. Viele Schriften passierten die Zensur nur mit Änderungen und Auflagen. Am mildesten wurden Publikationen von Schweizer Autoren beurteilt, es sei denn, es handelte sich um erklärte Kommunisten oder Faschisten; am schwierigsten hatten es Emigranten. Dieser Krieg von Thomas Mann wurde verboten, umgekehrt gab es auch keine Bewilligung für Film und Buch zu Jud Süss. Stefan Zweigs Autobiographie Die Welt von gestern wurde mit einem Ausstellungs- und Anpreisungsverbot belegt. Lisa Tetzner durfte ihren mehrteiligen Flüchtlingsroman Die Kinder aus Nr. 67 nur unter Weglassung der sowjetischen Heilsbotschaft publizieren. Was linke Zeitungen längst über die Judenvernichtung schrieben, durfte erst nach dem Sommer 1944 auch in Buchform erscheinen.

Keller gelingt es deutlich zu machen, wie die Schweizer Buchzensur zur Nazizeit arbeitete und welche Tendenzen sie verfolgte. Schade, dass die Fußnoten nicht am Fuß der Seite stehen, wo sie eigentlich hingehören, sondern am Schluss des Buches, was sehr unhandlich ist. Eine Schwäche dieses Buches ist auch der durch den Verfasser hervorgerufene Eindruck, als sei die Schweiz ein rein deutschsprachiges Land. Die Buchzensur erscheint als eine vollkommen deutschschweizerische Angelegenheit, die Buchproduktion in französischer, italienischer und rätoromanischer Sprache wird nicht einmal erwähnt, und die Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus und mit dem Regime von Marschall Pétain ist kein Thema. Insofern ist die Behauptung im Titel des Buches, es behandle die “schweizerische Buchzensur im Zweiten Weltkrieg”, schlicht falsch.

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Über das BuchStefan Andreas Keller: Im Gebiet des Unneutralen. Schweizerische Buchzensur im Zweiten Weltkrieg zwischen Nationalsozialismus und Geistiger Landesverteidigung. Zürich [Chronos Verlag] 2009, 347 Seiten, 37,50 Euro.Empfohlene ZitierweiseStefan Andreas Keller: Im Gebiet des Unneutralen. von Blum, Roger in rezensionen:kommunikation:medien, 10. Oktober 2011, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/6373
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