Rezensiert von Maria Löblich
Jürgen Wilke hat in diesem Band zehn Arbeiten zur Fachgeschichte versammelt, die er in den 1990er und 2000er Jahren geschrieben hat und die an teilweise entlegenen Stellen erschienen sind oder noch gar nicht veröffentlicht wurden. Auch wenn er im Vorwort schreibt, dass er Fachgeschichte nie schwerpunktmäßig betrieben hat, kristallisiert sich durch die Bündelung der Beiträge doch deutlich sein Blick auf die Geschichte der Kommunikationswissenschaft heraus. Das Buch startet mit der Frage, wie dieser “Spätkömmling” unter den akademischen Disziplinen entstanden ist und wie er sich entwickelt hat. In der Zusammenschau geben die Beiträge zwei Antworten: durch Institutionalisierungsprozesse und (auf der ideengeschichtlichen Ebene) durch die US-amerikanische Mass Communication Research.Der Titel des Bandes kündigt mit den Zugriffsebenen Personen, Institutionen und Prozesse eine Klammer an, die in den Beiträgen auch aufgeht. Auf der personalen Ebene verfolgt Wilke beispielsweise die zum Teil verschlungenen Wege des Wieners Ernst Kris und des Berliners Rudolf Arnheim, die aufgrund des Nationalsozialismus auswandern mussten und eigentlich erst durch die Emigration (und auch nur vorübergehend) zu Kommunikationsforschern wurden. Die aus der Institutionalisierungsperspektive geschriebenen Beiträge arbeiten sich von der Entwicklung des Fachs in Deutschland über die komplizierte Gründung seiner Fachgesellschaft hin zum Mainzer Institut für Publizistik, dessen Geschichte Jürgen Wilke seit den Anfängen in den 1960er Jahren selbst als Student, Assistent und Professor erlebt hat.
Eigentlich hätte die Klammer aber um die ideengeschichtliche Ebene ergänzt werden müssen, findet sie sich doch in fast allen Beiträgen. Der ideengeschichtliche Zugriff kann dabei als Weiterspinnen des roten Fadens verstanden werden, der die Geschichtsschreibung der US-Massenkommunikationsforschung und der deutschen Kommunikationswissenschaft bis heute durchzieht, als Suche nach (weiteren) historischen Spuren für die Beschäftigung mit den klassischen Kernthemen Propaganda, Medienwirkungen, öffentliche Meinung, Nachrichten sowie für die Verwendung empirischer Methoden, und auch als Verlängerung einer Ahnenreihe, die bis zum Altertum zurückreicht (wie der Beitrag über die “Kommunikationswissenschaft und die Antike” verdeutlicht).
Wilke untersucht die durch den Völkerbund finanzierte Filmforschung in Italien im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die zu den Anfängen der empirischen Sozialforschung gehört, Parallelen zu den bekannten Payne-Fund-Studies aufweist und Rudolf Arnheim schließlich half, in Paul F. Lazarsfelds Office of Radio Research unterzukommen. Er schreibt in diesem und weiteren Beiträgen die dominierende Erzählung der Fachgeschichte weiter, derzufolge die Vereinigten Staaten seit den 1930er Jahren “zum eigentlichen Laboratorium der modernen Kommunikationswissenschaft wurden” (43). Bereichert wird diese Erzählung mit neuen Einsichten: Etwa war Walter Lippmann nicht nur Theoretiker der Öffentlichen Meinung, sondern hat Ideen der Nachrichtenwert- und Wirkungsforschung vorweggenommen, und Lazarsfeld war (Wissenschafts-)Geschichts-affin. Letzteres hätte man allerdings gern zusammen mit einer Einordnung gelesen, wie Lazarsfelds Interesse für die empirisch-sozialwissenschaftliche Forschungsgeschichte erklärt werden kann − vielleicht auch vor dem Hintergrund seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit.
Wer nach alternativen Interpretationen der Fachgeschichte sucht, vielleicht auch nach etwas weniger Linearität in der Fachentwicklung, wird das Buch weniger interessant finden. Lesern, die sich hingegen tiefer gehend mit der US-amerikanischen Kommunikationswissenschaft (und ihren europäischen Wurzeln) beschäftigen wollen und einen Überblick über die institutionelle Entwicklung des Fachs in Deutschland suchen, ist dieser Band zu empfehlen.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Jürgen Wilke an der Universität Mainz
- Webpräsenz von Maria Löblich an der Universität München
[…] die institutionelle Entwicklung des Fachs in Deutschland suchen, ist dieser Band zu empfehlen. r:k:m, August […]