Melanie Verhovnik: School Shootings

Einzelrezension, Rezensionen
3933 Aufrufe

Rezensiert von Silke Braselmann

Melanie Verhovnik: School ShootingsEinzelrezension
Columbine, Winnenden, Erfurt – längst wecken diese Ortsnamen Erinnerungen an grausame Gewalttaten und rufen Bilder trauernder Schüler und abgesperrter Schulhöfe ins Gedächtnis. Schulamokläufe oder school shootings, um den auch von Melanie Verhovnik in ihrer Dissertationsschrift gewählten und wissenschaftlich etablierten Begriff zu verwenden, sind extrem seltene Taten, die eine erstaunlich große Präsenz im öffentlichen Diskurs haben. Dass sich diese Gewalttaten zunächst in Amerika – und seit den frühen 2000er Jahren auch in Deutschland – so fest im kollektiven Gedächtnis verankern konnten, liegt zum einen an ihrer Plötzlichkeit und dem schockierenden Ausmaß, zum anderen an der ausführlichen medialen Berichterstattung. School shootings sind somit Medienereignisse: Die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Taten als mögliche Bedrohung sowie gewisse Muster ihrer Durchführung sind demzufolge untrennbar mit den Dynamiken der medialen Berichterstattung verbunden.

Diese Beobachtung, die auch einer der Ausgangspunkte von Verhovniks Studie ist, ist in der Amokforschung nicht neu. Insbesondere in Amerika setzen sich Wissenschaftler seit den 2000er Jahren intensiv damit auseinander, wie es zu solchen Taten kommen konnte und welche Rolle die Medien in Bezug auf etwaige Nachahmungstaten einnehmen. Melanie Verhovnik bezieht diese Beobachtung in ihrer Studie auf die deutsche Berichterstattung; als Ausgangspunkt wählt sie das school shooting an der Columbine High School in Littleton im April 1999. Anhand einer kurzen qualitativen und umfangreichen quantitativen Analyse der Berichterstattung über die school shootings in Littleton, Meißen, Erfurt, Winnenden und Ansbach in ausgewählten Printmedien und im Fernsehen will die Autorin zeigen, welche Deutungsmuster bzw. Frames in den Medien vorherrschen. Als Überprüfung, welche dieser Deutungsmuster über Ursachen, Täter oder Präventionsmöglichkeiten auch tatsächlich transportiert werden, wurden Gruppendiskussionen mit Schülern und Studierenden durchgeführt und analysiert.

Das thematische Fundament des Columbine-Attentats ist eine in Ausmaß und medialer Aufmerksamkeit als prototypisch verstandene Tat und daher auch der einzige amerikanische Vorfall, der hier näher untersucht wird. Doch bevor sich die Autorin der Analyse der medialen Berichterstattung widmet, stellt sie einen ausführlichen Überblick über die Thematik voran. In sechs sehr umfangreichen Kapiteln, die die ersten 180 Seiten der Publikation einnehmen, fasst sie den internationalen Forschungsstand zum Phänomen school shootings zusammen: Die Diskussionen rund um Terminologie, Tatbeschreibung, Ursachenforschung, Risikofaktoren – mit einem Fokus auf die Debatte zu Mediengewalt – und Präventionsstrategien werden vorgestellt und einzelne Ansätze zu besonderer Betrachtung ausgewählt. Dies ist ein sehr ehrgeiziges Unterfangen, denn auch wenn die Quellenlage im deutschsprachigen Raum vergleichsweise übersichtlich ist, gibt es eine Vielzahl amerikanischer Studien, die das Geschehen aus unterschiedlichsten disziplinären Blickwinkeln analysieren. Somit ist es wenig verwunderlich, dass die Autorin sich bei dem Anspruch, interdisziplinäre Forschungsergebnisse der letzten zwei Jahrzehnte zu vereinen, gelegentlich zu verlieren scheint.

Verhovnik kann durchaus eine umfangreiche Rezeption vieler relevanter Studien vorweisen, jedoch fehlt ihr an einigen Stellen der Bezug zur medialen Berichterstattung und damit zum eigentlich ausgewiesenen Thema ihrer Untersuchung. So ist die Integration biopsychologischer Erklärungsansätze für Gewalt oder soziologischer und pädagogischer Forschungsergebnisse in ihrer Darstellung schwer nachvollziehbar und wird auch nicht weiter begründet. Außerdem fehlt insbesondere im disziplinären Kontext der Studie oft eine kritische Betrachtung der divergierenden Ansätze: In Kapitel 3 schreibt die Autorin von einer „Epidemiologie“ (S. 35) von school shootings und suggeriert durch diese Begriffswahl, dass school shootings faktisch ein sich ausbreitendes und epidemisches Problem seien – zu hinterfragen, inwieweit diese Wahrnehmung selbst medial konstruiert ist, wäre hier wünschenswert gewesen.

Darüber hinaus wendet Verhovnik, während sie noch im zweiten Kapitel die Schwierigkeit einer korrekten Terminologie und das Problem einer einheitlichen Definition von school shootings thematisiert, in der Auswahl ihrer eigenen Beispiele undurchsichtige Kriterien an, wie der von ihr als school shooting bezeichnete Mord an einer Lehrerin in Meißen 1999 zeigt. Dass sie diese Tat einbezieht – der Unterschied zu den Taten von Erfurt, Winnenden und auch Ansbach wird später in der quantitativen Analyse deutlich –, erschließt sich nur dann, wenn Verhovnik sie ausschließlich durch ihre zeitliche Nähe zum Geschehen in Columbine oder über die Charakteristika des Täters als school shooting einstuft. Letzteres wäre äußerst problematisch, denn die Bildung von Täterprofilen wird in der Amokforschung aufgrund ihrer Beliebigkeit und der Begünstigung von Vorverurteilung bereits ins Abseits geschobener Jugendlicher von vielen Seiten stark kritisiert. Verhovnik nennt diese Kritik zwar, in der Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse präsentiert sie jedoch selbst ein Profil des „‘typischen’ School Shooters“ (S. 56). Darin fasst sie verschiedenartige Forschungserkenntnisse zusammen, allerdings nur um später einzugestehen, dass es „kein allgemeingültiges Profil, das die Charaktermerkmale eines solchen Täters in jedem Fall beschreibt“, geben kann (S. 57).

Ein direkter Zusammenhang mit Verhovniks eigentlicher Perspektive auf die mediale Berichterstattung ist in ihrem ausführlicheren Kapitel 5.3 zur Mediengewaltdebatte gegeben. Leider gelingt es der Autorin auch hier nur unzureichend, die komplexe und kontroverse Debatte zu bewerten und für ihre Fragestellung kritisch einzuordnen. Stattdessen lässt sie – wie schon in ihrem Unterkapitel zu Gewalttheorien – trotz vieler verwendeter Quellen klare Arbeitsdefinitionen zu ihrem Gebrauch des Medienbegriffs vermissen. Dadurch schafft sie keine klare Trennung zwischen fiktionaler Gewaltdarstellung in Filmen oder Videospielen und den berichterstattenden Medien.

Im Analyseteil der Arbeit, dem eine sehr aufwändige Recherche zugrunde liegt, soll an der Überprüfung einiger Hypothesen gezeigt werden, dass die deutschen Medien „unzureichend“, „nicht sachlich angemessen“ und „heroisierend“ berichten (S. 202). Aus einer quantitativen Analyse von über 1000 Zeitungsartikeln, in denen sie die Häufigkeit bestimmter Aussagen etwa über die Täter, Motive oder Präventionsmöglichkeiten sammelte, ermittelt Verhovnik mithilfe einer Clusterzentrenanalyse unterschiedliche Frames. Dabei handelt es sich um ein Gruppierungsverfahren, das große Datenmengen strukturiert und in einzelne Gruppen unterteilt und zusammenfasst. In einer qualitativen Inhaltsanalyse der Gruppendiskussionen wurden dann gesellschaftliche Basisvorstellungen in der Rezeption erfasst. Leider gehen in der Masse der Daten und Zahlen selbst in der Auswertung einige interessante Beobachtungen unter: Die Feststellung etwa, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine vergleichbar reißerische Terminologie in Bezug auf die Täter verwendet, wie sie für die Bild-Zeitung typisch ist, wird z. B. nur am Rande erwähnt. Darüber hinaus führen einige Verweise auf Anhänge ins Leere, was zusätzlich für Unklarheiten sorgt.

Wie im Klappentext des Buches angekündigt, hat Verhovnik die erste umfassende quantitative Analyse der Berichterstattung zu school shootings im deutschsprachigen Raum geliefert. Leider gehen ihre Beobachtungen dazu aufgrund der fehlenden Anbindung an ihre Ausführungen über Hintergründe, Forschungsstand und theoretische Darstellungen u.a. zu Framing und Methode oft unter. Hier wäre eine deutlichere Argumentationsführung zuträglich gewesen. Zudem versäumt die Autorin, die aktuelleren Diskussionen zur Medienethik nach dem school shooting in Newtown (USA) im Dezember 2012 in ihre Beobachtungen oder zumindest in ein Fazit zu integrieren. Sie verpasst somit die Chance, die Aktualität ihrer Arbeit zu unterstreichen. Dies – in Kombination mit einer klärenden Zusammenfassung – wäre anstelle des ethischen Leitfadens für Journalisten, den Verhovnik statt eines Fazits der Studie nachstellt, erfreulich gewesen und hätte die Verwendung der Studie für den interdisziplinären Gebrauch erleichtert.

Links:

Über das BuchMelanie Verhovnik: School Shootings. Interdisziplinäre Analyse und empirische Untersuchung der journalistischen Berichterstattung. Baden-Baden [Nomos] 2015, 414 Seiten, 74,- Euro.Empfohlene ZitierweiseMelanie Verhovnik: School Shootings. von Braselmann, Silke in rezensionen:kommunikation:medien, 22. Juli 2016, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19279
Getagged mit: , , , , , , , , ,
Veröffentlicht unter Einzelrezension, Rezensionen