Stephan Ruß-Mohl: Kreative Zerstörung

Einzelrezension
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Rezensiert von Stephan Weichert

ruß-mohl2009Einzelrezension
Der quälende Erosionsprozess der US-amerikanischen Zeitungsindustrie – und mit ihm die Aushöhlung des hergebrachten Qualitätsjournalismus – ist längst ein offenes Geheimnis: Kaum eine Woche vergeht, an dem keine Hiobsbotschaft von Verlagsinsolvenzen, Redaktions- zusammenlegungen oder Massen- entlassungen durch die angefressene Medienbranche wabert. Der Zustand der Presse ist in den USA, anders als in Europa, schon derart verhängnisvoll, dass dort Kampfbegriffe wie “Newspaper Endgame”, “The Vanishing Newspaper” und “The End of Journalism” zu geflügelten Worten wurden. Ein Blog mit dem zynisch klingenden Namen “Newspaper Death Watch” (“Totenwache Zeitung”) listete Anfang Dezember 2009 elf Tageszeitungen in amerikanischen Ballungsgebieten, die binnen zweieinhalb Jahren verschwunden sind. Betreiber des Blogs ist der Ex-Journalist Paul Gillian, der sich – wie viele andere Millionen Amerikaner – darum sorgt, wie sich das Siechtum der Zeitungen langfristig auf das Journalistenhandwerk und somit auf die amerikanische Gesellschaftsordnung auswirkt.

Die wachsende Unsicherheit ob des zerstörerischen Potenzials der Struktur- und Medienkrise in den USA und der möglichen Rückkoppelungseffekte auf die europäischen Zeitungsmärkte, deren untrügerische Vorboten hier schon seit einiger Zeit zu spüren sind, lässt inzwischen auch deutsche Journalisten, Verlagsmanager und Medienexperten aufmerken. Anlass genug für den in der Schweiz lehrenden Kommunikationswissenschaftler Stephan Ruß-Mohl, jetzt ein Buch zu veröffentlichen, das bei keinem Zeitungsliebhaber unter dem Kopfkissen fehlen darf – an dieser Stelle allerdings, das sei vorweggenommen, für Alpträume sorgen kann. Denn der Beipackzettel, den Ruß-Mohl hier implizit mitliefert, hat sich gewaschen: Obwohl er den amerikanischen Zeitungsmarkt unter die Lupe nimmt, hat er nach eigener Aussage das Buch geschrieben, “um besser einschätzen zu können, was auf uns in Deutschland, in der Schweiz, in Europa zukommt – und wie wir trotz alledem vielleicht den Qualitätsjournalismus retten können.”

So ist der beinahe romantisch anmutende Buchtitel “Kreative Zerstörung” dem Ökonomen Joseph Schumpeter entlehnt, der Ruß-Mohls jahrelange Forschungen im Grenzbereich zwischen Journalistik und Ökonomie inspiriert hat. Schumpeter habe, sagt Ruß-Mohl, “wohl als Erster begriffen, dass die Umwälzungen des Kapitalismus sowohl destruktiv als auch schöpferisch sind”, sprich: Zerstörung ist notwendig, damit eine Neuordnung überhaupt stattfinden kann. Um dieser (R)evolution im Journalismus nachzuspüren, ist der Professor an der Università della Svizzera italiana eigens von Lugano mitten in das Silicon Valley gereist, um sich höchstselbst von der Ausgeburt jener Zerstörung zu überzeugen, die im Schumpeter’schen Sinne zugleich Funke schöpferischer Wiedergeburt sein soll. Die unheilvollen Umbrüche während eines mehrwöchigen Forschungsaufenthalts an der renommierten Stanford University im Sommer 2008 und zuvor an der University of Oregon sozusagen am lebenden Objekt zu untersuchen (der Autor besuchte auf seinen Reisen neben einer Reihe von Zeitungsexperten auch die Redaktionen namhafter Prestige-Blätter, darunter “Los Angeles Times“, “New York Times“, “Palo Alto Weekly“, “Washington Post” und “San Francisco Chronicle“) und der Gedanke, wie es weiter gehen könnte, hätten ihn regelrecht “fasziniert”.

Vielleicht ist es genau diese Faszination, die das Buch in all seinen Facetten, Argumentationsketten und Katastrophenschauplätzen so lesenswert macht: eine Art Medienwissenschafts-Thriller für starke Nerven und mit ungewissem Ausgang. Auch wenn Ruß-Mohl natürlich nicht das heiß ersehnte Business-Modell für die Verlagsbranche liefern kann, ist das Buch mehr als eine aufmerksame Zustandsbeschreibung: Wer die aufschlussreichen Case-Studies und Analysen darin sorgsam durcharbeitet oder sagen wir passender: den Cliffhangern zum Ende der jeweiligen Kapitel entgegenfiebert, dessen Neugierde wird auf das, was da im Auge des Taifuns womöglich noch entstehen wird, nicht enttäuscht. Ruß-Mohl streut allenthalben Worst- und Best-Practice-Modelle ein, 37 Abbildungen und zahlreiche Erklärkästen illustrieren wichtige ökonomische Trends und journalistische Fallbeispiele. Vor allem aber lebt das Werk von den Statements der für das Buch befragten Experten, unter anderem Tom Rosenstiel (Project for Excellence in Journalism), Geneva Overholser und Phil Seib (Annenberg School for Communication, University of Southern California), Jonathan Landman (“New York Times“) und Michael Getler (PBS, ehem. “Washington Post“).

Fürderhin ist die Publikation – nach amerikanischem Vorbild – ein Zwitter zwischen Wissenschaft und populärem Sachbuch, wie man sie im deutschsprachigen Raum glücklicherweise immer häufiger findet, auch wenn die beinharte Kommunikationswissenschaft solcherlei “Grenzwissenschaft” argwöhnisch betrachtet – teils aus mangelnder Leidenschaft für den Beruf, teils aus Standesdünkel. Dennoch ist die Methodik des Autors lupenrein, wenngleich er die fehlende “Angemessenheit bestimmter Forschungstechniken” innerhalb der Kommunikationsforschung gleich zu Anfang moniert (36) – und bitter konstatiert: “Dieses Manko lässt sich nicht beseitigen.” Gleichwohl betrachtet er genau dies als Herausforderung, “verschiedene methodische Ansätze in kreativer Weise zu verbinden und weiterzuentwickeln”. Und das versucht Ruß-Mohl, indem er interdisziplinäre Brücken zur Ökonomie baut, empirisch-analytische Herangehensweisen und journalistische Recherchetechniken mit einem Crowdsourcing unter Medienexperten kombiniert und alles in allem – wie er schreibt – der “Journalistik neue Ziele” setzen will: Diese solle sich “zur Speerspitze einer Bewegung machen, die den Status quo einer kommunikationsunfähigen und damit auch in ihrer Wirkungsmacht beeinträchtigten Disziplin überwindet, indem sie mit journalistischen Mitteln Erkenntnisstand, -prozesse und -probleme vermittelt” (36f.).

Es sind zweifellos zu viele, um sie an dieser Stelle alle wiederzugeben, aber zu den gravierenden Neuerungen der Internet-Revolution, die Ruß-Mohl zufolge den Niedergang der Zeitungen nachhaltig beeinflusst und letztlich deren Neuerfindung bedeutet, gehören vor allem das Web 2.0 und seine neuen Akteure, also Blogger, Mitglieder in Social Networks und Bürgerjournalisten. Sie verändern das bisherige Medienangebot von Grund auf: durch Nischenangebote, alternative Geschäftsmodelle und neue Nutzungs-Cluster, aber auch die Vermischung von PR-Interessen und journalistischen Inhalten. Seiner Argumentationslinie folgend plädiert Ruß-Mohl am Ende des Buches konsequent für Bezahlinhalte im Internet: einerseits um die hemmungslose Selbstbedienungs-Mentalität einzudämmen, andererseits um die massenhafte Meinungsfreude der Laien im Netz noch von jener der professionellen Medienarbeiter unterscheidbar zu halten – und den Fortbestand Letzterer zu sichern. Diese muss der Leser sich aber künftig nicht unbedingt in übermäßigen Dimensionierungen vorstellen. Der “dynamische Unternehmer” (256f.), ebenfalls ein Wort aus der Theorieapotheke Schumpeters, beschreibt vielmehr einen Typus Journalist, der nicht nur thematisch flexibel denkt und vielseitig ist, sondern auch bereit ist, seine ökonomische Existenz in die eigene Hand zu nehmen. Und wahrscheinlich ist ebendies die wichtigste Botschaft, die uns ein Buch über den drohenden Kollaps des amerikanischen Qualitätsjournalismus mit auf den Weg geben will: Unser Schicksal ist heute gar nicht mehr von traditionellen Großverlagen und Medienunternehmen abhängig, sondern vom Erfindergeist und dem Experimentierwillen einzelner Journalisten.

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Über das BuchStephan Ruß-Mohl: Kreative Zerstörung. Niedergang und Neuerfindung des Zeitungsjournalismus in den USA. Konstanz [UVK] 2009, 284 Seiten, 29,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseStephan Ruß-Mohl: Kreative Zerstörung. von Weichert, Stephan in rezensionen:kommunikation:medien, 7. Dezember 2009, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/1416
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