Sandra Siebert: Angeprangert!

Einzelrezension
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Rezensiert von Hanne Detel

Einzelrezension
Der Skandal hätte bereits im November 1999 seinen Anfang nehmen können. Damals veröffentlichte die Frankfurter Rundschau einen Bericht, der den jahrelangen Missbrauch von Schülern an der Odenwaldschule enthüllte – jedoch ohne Reaktion: keine Empörung in der Öffentlichkeit, keine anderen Medien, die sich einschalteten, keine Strafen für den Schuldigen. Der Skandal blieb aus. Es sollte mehr als zehn Jahre dauern, bis erneute Berichterstattung den bitter nötigen Skandal auslöste. Worin liegen die Gründe, dass die Enthüllung eines Missstandes in einem Fall einen Skandal initiiert und im anderen nicht? Warum lässt sich das Ausmaß der Empörung in der Bevölkerung nicht mit der Größe und Art der Missstände erklären? Warum echauffiert sich die Öffentlichkeit in manchen Fällen über kleine und unwichtige Dinge, während die Entrüstung bei einigen großen Missständen – wie zunächst im Fall der Odenwaldschule – ausbleibt?

Bei dieser relevanten, bislang unbeantworteten Frage setzt die Medienwirkungsstudie der Kommunikationswissenschaftlerin Sandra Siebert an: In ihrer Dissertation, die im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojekts zur Eigendynamik der Wirkung von Skandalberichten am Institut für Publizistik der Universität Mainz entstanden ist, untersuchte sie, wie die Medienberichterstattung über einen Missstand aussehen muss, damit in der Bevölkerung skandaltypische Vorstellungen und Reaktionen entstehen. Sieberts Buch ist flüssig geschrieben, nachvollziehbar strukturiert – nur ab und an stören Redundanzen den Lesefluss.

Zunächst widmet sich die Autorin den theoretischen Grundlagen. Nach einer sehr knappen Einführung in die Skandalthematik und den Ablauf von Skandalen, die Teile der aktuelleren einschlägigen Literatur (etwa Burkhardt 2006, Bergmann/Pörksen 2009 oder Kepplinger 2009) vermissen lässt, definiert sie den in der Arbeit verwendeten theoretischen Skandalbegriff wie folgt: “Die im Laufe eines Definitions- und Kommunikationsprozesses entstehende öffentliche Wahrnehmung eines Sachverhalts oder Ereignisses als empörungswürdiger Missstand und die daraus resultierende kollektive Empörung.” (22)

Um die dabei zentrale Rolle der Medien zu erklären, zieht die Autorin nicht nur Theorien aus der Medien- und Kommunikations-wissenschaft heran, sondern auch aus der Sozial- und Kognitionspsychologie. Am Ende des Theorieteils steht ein von Siebert erarbeitetes Erklärungsmodell für den Einfluss der Medienberichterstattung auf die Vorstellungen und Reaktionen der Bevölkerung. Als zentrale Faktoren werden die Intensität, die Anprangerung und die Konsonanz der Berichterstattung gesehen, die dem Modell zufolge die Vorstellung in der Bevölkerung, die Empörung sowie das Verlangen einer Bestrafung des Skandalisierten beeinflussen.

Diese Annahmen überprüfte Siebert im empirischen Teil ihrer Arbeit. Für die aufwendige Untersuchung wählte sie fünf Fälle im Zeitraum von 2004 bis 2006: die Gehaltszahlungen von Firmen an Abgeordnete, die Visavergabepraxis an deutschen Botschaften, Gerhard Schröders Verbindungen zum russischen Gaskonzern Gazprom, den Einsturz der Eishalle von Bad Reichenhall sowie die Überwachung von Journalisten durch den Bundesnachrichtendienst.

Zu diesen Fällen untersuchte die Autorin die Medienbericht-erstattung mithilfe einer quantitativen Inhaltsanalyse von sieben Tageszeitungen und der Hauptnachrichtensendungen der vier reichweitenstärksten deutschen Fernsehsender (Analyse von insgesamt 1169 Beiträgen). Die Vorstellungen und Reaktionen in der Bevölkerung erhob sie innerhalb weniger Tage nach Beginn der Berichterstattung mit dem Instrument der repräsentativen telefonischen Umfrage (Zufallsstichprobe; 52 geschulte Interviewer; pro Erhebungswelle rund 200 befragte Personen; insgesamt 1079 Interviews).

Nach der Vorstellung der Hintergründe und chronologischen Abläufe der Fälle folgt zunächst die Analyse der Medienberichterstattung. Darin zeigt sich, dass über die Ereignisse mit unterschiedlicher Intensität berichtet wurde, die Stärke der Anprangerung jedoch nur gering variierte. Zudem ergab die Inhaltsanalyse ein unterschiedliches Ausmaß an Konsonanz. So berichteten die Medien über die Gehalts- und die BND-Affäre konsonant, während die Berichterstattung über die Visa-Affäre von Dissonanz geprägt war.

Die Analyse der Sichtweise der Bevölkerung macht deutlich, dass die Skandalfälle durchweg bekannt waren. Im Gegensatz zur Berichterstattung gingen die Beurteilung der einzelnen Fälle, das Ausmaß an Ärger und das geforderte Strafmaß von Fall zu Fall auseinander. Besonders interessant hierbei: Das Verhalten der vermeintlichen Verursacher wurde – anders als in der Berichterstattung – negativ bewertet.

In einem letzten Teil betrachtet die Autorin den Einfluss der Berichterstattung auf die Vorstellungen und Reaktionen der Bevölkerung. Hier wird deutlich: Je intensiver über einen Skandal berichtet wurde, desto größer war das Interesse in der Bevölkerung daran. Eine Wirkung der inhaltlichen Darstellung der Skandalfälle auf die Reaktionen und Vorstellungen der Bevölkerung konnte aufgrund des methodischen Vorgehens nur in Ansätzen belegt werden. In den meisten Fällen fehlte für einen statistischen Nachweis ein ausreichendes Maß an Varianz auf der Inputseite – also eine dissonante Berichterstattung der untersuchten Medien wie im Fall der Visa-Affäre.

Dies ist insofern enttäuschend, als dass sich die Leserin des Buches eine klarere Antwort auf die eingangs gestellten Fragen bezüglich der Wirkung der Berichterstattung auf die Reaktionen der Bevölkerung erhofft hatte. Dennoch: Alles in allem lässt sich resümieren, dass Siebert mit ihrer Studie einen wichtigen Beitrag zur Skandalforschung geleistet hat. Das Buch liefert neue Sichtweisen auf die Thematik und überzeugt durch eine originelle methodische Vorgehensweise anhand realer Fälle.

Links:

Über das BuchSandra Siebert: Angeprangert! Medien als Motor öffentlicher Empörung. Marburg [Tectum Verlag] 2011, 290 Seiten, 29,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseSandra Siebert: Angeprangert!. von Detel, Hanne in rezensionen:kommunikation:medien, 27. August 2012, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/9859
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