Rezensiert von Florian Kiefer
Die Game Studies sind eine vergleichsweise junge Disziplin, die sich unter Rückgriff auf wissenschaftliche Methoden und Ansätze aus unterschiedlichen Fächern und Bereichen dem hybriden Phänomen des Computerspiels widmet. Vermutlich wird man den Game Studies besser gerecht, wenn man sie nicht als neue Fachdisziplin, sondern als interdisziplinäres Projekt bezeichnet, ähnlich wie es für die Cultural Studies reklamiert wird (vgl. Hepp 2004). Die Game Studies haben sich mittlerweile ein Stück weit etabliert, organisiert und auch ausdifferenziert. Der vorliegende Band fügt sich ein in eine Reihe neuerer Arbeiten, in denen spezifische Dimensionen dieses neuen Mediums im intermedialen Vergleich einer detaillierten Betrachtung unterzogen werden.Ausgehend von Gérard Genettes (1994) Arbeiten zur Erzähltheorie zielt Michael Mosel mit seiner Untersuchung auf die Rekonstruktion der spezifischen Strategien ab, die im Computerspiel zur narrativen und audiovisuellen Subjektivierung der Erzählperspektive eingesetzt werden. Mosel geht dabei nicht von einer stabilen subjektiven Erzählperspektive aus, sondern versucht sowohl verzerrten Wahrnehmungen (25) als auch der Darstellung labiler subjektiver Befindlichkeiten, wie sie z. B. für den Film Noir charakteristisch sind (26), begrifflich Rechnung zu tragen.
Auf der Basis von Genettes rein auf literarische Werke bezogenen Erzähltheorie differenziert der Verfasser zwischen einer wahrnehmenden Perspektive (“Wer sieht?”) und der Identität der Stimme, die diese Perspektive schildert (“Wer spricht?“). Das Verhältnis zwischen dem Wissensstand des Erzählers und seinen Figuren wird bei Genette mit dem Konzept der Fokalisierung beschrieben (32). Diese erzähltheoretischen Überlegungen werden im Anschluss auf das Feld der Filmtheorie und der Game Studies übertragen. Die Schwierigkeit besteht vor allem darin, dass diese Erzähltheorie der sensorischen Mehrkanaligkeit des Films (die Inszenierung des Sehenden durch die Kameratechnik) bzw. des Computerspiels (die Steuerung des Sehenden) nicht gerecht wird. Mosel versucht diese Schwierigkeiten durch Bezugnahme auf die Arbeiten von Branigan (1984) und Mitry (1998) aufzulösen.
Mit Hilfe des point-of-view-shot-Konzepts von Branigan soll dem Fokalisierungskonzept die fehlende optische Perspektive des Spectateurs hinzugefügt werden. Beim Computerspiel gilt es zusätzlich, die interaktive Steuerung der Perspektive zur berücksichtigen. Das Computerspiel ist durch eine spezifische human-computer-interaction (HCI) charakterisiert und hat insofern neue Formen der Involvierung (Pietschmann 2009) hervorgebracht. Für die leitende Frage nach der Art und Weise, wie im Computerspiel eine Subjektivierung der Erzählperspektive arrangiert wird, muss daher, so Mosel, insbesondere die Beziehung zwischen sensorischen bzw. motorischen Prozessen und deren Übersetzung durch den Computer berücksichtigt werden.
Mosel vertritt angesichts der Entwicklungstendenzen in der Computertechnik die These, dass es sich “bei der Subjektivierung im Computerspiel um nichts anderes als den Versuch [handelt], das Interface so transparent wie möglich erscheinen zu lassen […], um die subjektiven, psychischen Befindlichkeiten einer oder mehrerer Computerspielfiguren zu objektivieren” (103). Andererseits erscheinen ihm Techniken zur Erzeugung sensomotorischer Involvierung als besonders prädestiniert, um Subjektivierung zu erzeugen (113). Diesen Zusammenhang verdeutlicht er an verschiedenen Computerspielen und bietet zugleich ein Vokabular an, das in der Lage sei, diese Phänomene zu beschreiben.
Zentral für die Games Studies ist der Versuch, ludologische und narratologische Perspektiven, die in den Game Studies nicht selten im Widerstreit stehen, zu integrieren, um so das Potential beider Zugänge für das Verständnis des Mediums konstruktiv werden zu lassen. Dieses Vorhaben kann als gelungen bezeichnet werden, denn Mosel zeigt Grenzen der (klassischen) Erzähltheorie auf, die durch Rückgriff auf Konzepte wie HCI und (sensomotorische) Involvierung bearbeitbar werden.
Aber auch für die strukturale Medienbildung (Jörissen; Marotzki 2009) lassen sich aus der Arbeit weiterführende Impulse ableiten, denn Mosel bietet ein begrifflich-methodisches Instrumentarium für die Untersuchung des Wechselspiels von aktiv-analytischem (Engagement) und passiv-rezipierendem Modus (Immersion) an, das für die Identifizierung von Bildungsimpulsen von zentraler Bedeutung ist.
Gefragt werden kann, ob mit der sensomotorischen Involvierung die Besonderheiten der interaktiven Subjektivierung der Erzählperspektive im Computerspiel bereits hinreichend erfasst sind. Zweifellos handelt es sich um einen relevanten Aspekt, der in der klassischen Erzähltheorie noch keine Rolle spielt. Die Frage ist aber, ob interaktive Involvierung (bzw. interaktives Engagement) nicht auch weitere Dimensionen umfasst, etwa eine (veränderte) perzeptive, soziale oder kognitive Involvierung.
Literatur:
- Branigan, Edward: Point-of-View Shot in the cinema. A theory of narration and subjekitivity in classical film. Berlin [Mouton] 1975.
- Genette, Gérard: Die Erzählung. München [Fink] 1994.
- Hepp, Andreas: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. Wiesbaden [VS Verlag] 2004, 2. Auflage.
- Jörissen, Benjamin; Marotzki, Winfried: Medienbildung – Eine Einführung. Bad Heilbrunn [Klinkhardt/UTB] 2009.
- Mitry, Jean: The aesthetics and psychology of the cinema. London [Athlone] 1998.
- Pietschmann, Daniel: Das Erleben virtueller Welten. Involvierung, Immersion und Engagement in Computerspielen. Boizenburg [vwh] 2009.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Michael Mosel an der Universität Bayreuth
- Webpräsenz von Florian Kiefer an der Universität Magdeburg