Rezensiert von Thomas Roessing
Human Survey Interaction von Lars Kaczmirek ist eine empirisch fundierte, umfassende Studie zur Methodenlehre der Online-Befragung. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Gestaltung der Fragebögen. Diese hat, das ist spätestens seit Dillmans “Total Design Method” bekannt, einen erheblichen Einfluss auf die Ausschöpfungsquote und die Qualität der Daten. Nach einer umfassenden Übersicht über Fehlerquellen der Online-Befragung (dazu gehören beispielsweise auch Stichprobenprobleme und Störungen des technischen Ablaufs) erläutert der Autor im zweiten Kapitel seinen theoretischen Zugang zum Thema. Im Zentrum steht die Usability, ein für Web-Seiten im Allgemeinen entwickeltes Konzept zur Mensch-Maschine-Interaktion.Auf den ersten Blick scheint das trivial zu sein. Natürlich ist eine Web-Befragung im Grunde nur eine Internetseite und es liegt nahe, darauf die allgemeinen Kriterien für gute Benutzbarkeit anzuwenden. Wie das Beispiel auf Seite 42 jedoch zeigt, ist es keineswegs eine triviale Aufgabe Usability-Kriterien auf Online-Umfragen zu übertragen. So verbessert im Allgemeinen eine Vorauswahl häufig genutzter Items in Menüs und Listen zweifellos die Usability. Das gilt beispielsweise, wenn an Fahrkartenautomaten mit Touchscreen die am häufigsten gewählten Ziele vom Fahrgast über eine Vorauswahl schnell ausgewählt werden können. Bei Umfragen beschädigten solche Vorauswahlen häufig gegebener Antworten mit Sicherheit die Datenqualität.
Eine besondere Stärke des Buches ist die Fundierung in systematisch angelegten Experimenten (auch wenn dadurch das Inhaltsverzeichnis mit recht vielen immer gleichen Überschriften belastet wird). Das Buch verbreitet auf diese Weise nicht lediglich Lehr-Meinungen, sondern Lehr-Fakten. Gleichzeitig sind die Befunde nicht nur für Methodenforscher- und -praktiker relevant, sondern haben an einigen Stellen Bezug zu gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, wie der Entwicklung barrierefreier Medien. Wie die Ergebnisse zur Befragung von Blinden und sehbehinderten Menschen (Kapitel 3) zeigen, muss sich der Umfrageforscher gelegentlich von herkömmlichen und bewährten Faustregeln und Lösungen verabschieden, um die Datenqualität zu bewahren.
Ein weiterer Schwerpunkt des Buches liegt auf Paradaten. Das sind Individualdaten, die während der Befragungsprozedur anfallen, die der Befragte jedoch nicht bewusst eingibt (79). Ein beliebtes Beispiel für Paradaten ist die Dauer des Interviews, die man in den Logfiles ablesen kann. Ein etwas elaborierteres Beispiel stammt aus einem der im Buch vorgestellten Experimente: Man kann erheben, wie oft Menschen beim Ankreuzen von Antwortalternativen oder dem Auswählen von Radio-Buttons daneben klicken. Diese Rate ist durchaus beachtlich (88) und damit eine ernste Fehlerquelle für Umfragen, die auf diesen Fehler nicht vorbereitet sind.
Auch die weiteren Untersuchungen, die die empirische Grundlage des Buches ausmachen, sind von praktischer Relevanz. Die vierte Studie (ab 100) beschäftigt sich mit der aus zahlreichen Lehrbuchdarstellungen bekannten Frage, inwieweit Online-Befragungen auf spezielle Browserkonfigurationen Rücksicht nehmen müssen (z. B. Javascript und Cookies). Zwei weitere Studien sind dem konkreten Design von Matrix-Fragen gewidmet: Welchen Effekt hat das Hervorheben der Zeilen durch streifenartiges, farbiges Hinterlegen oder die Betonung ausgewählter Antwortalternativen vor und nach dem Anklicken durch farbige Kästen? Kaczmireks Ergebnis: Visuelle Hilfen können dazu beitragen, die Item-Nonresponse zu senken.
Ebenfalls aus Lehrbüchern bekannt ist der “Fortschrittsbalken”. Kaczmirek kommt zu dem Schluss, dass wahrheitsgemäße und – sofern möglich – dynamisch für jeden Befragten individuell berechnete Fortschrittsanzeigen Vorteile für die Ausschöpfung der Umfrage bringen. Hingegen ist kein Fortschrittsbalken immer noch besser als einer, der unrealistische Informationen anzeigt.
Insgesamt ist Human Survey Interaction von Lars Kaczmirek ein sehr lehrreiches Buch von praktischer Relevanz für die angewandte und die akademische Online-Forschung und auch für die Lehre. Die sehr detaillierte Darstellung der Untersuchungsanlagen und der Ergebnisse erfordert einiges an Aufmerksamkeit und Konzentration, um der Argumentation zu folgen. Das wird jedoch durch knappe, klare und eindeutige Zusammenfassungen zu den einzelnen Kapiteln wettgemacht. Dass das Buch in Englisch erschienen ist, befördert seine internationale Rezeption (allerdings um den Preis einer verringerten Leserschaft bei vielen deutschsprachigen Studierenden, die noch immer allzu oft einen Bogen um fremdsprachige Fachliteratur machen).
Links:
Über das BuchLars Kaczmirek: Human Survey Interaction. Usability and Nonresponse in Online Surveys. Reihe: Neue Schriften zur Online-Forschung, Band 6. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2009, 224 Seiten, 30,- Euro.Empfohlene ZitierweiseLars Kaczmirek: Human Survey Interaction. von Roessing, Thomas in rezensionen:kommunikation:medien, 23. März 2012, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/8365