Werner Faulstich (Hrsg.): Das Alltagsmedium Blatt

Einzelrezension
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Rezensiert von Rea Köppel

Einzelrezension
“Das Medium Blatt ist das mit Abstand am meisten vernachlässigte Kommunikationsmedium unserer Zeit”, beginnt Werner Faulstich seine Einleitung zum Band Das Alltagsmedium Blatt (7). Da zwar in vielen Fachrichtungen Einzelstudien zu Blättern im Plural vorliegen, das Blatt im Allgemeinen und Besonderen aber bisher kaum untersucht wurde, leuchtet das von Faulstich angesprochene Forschungsdesiderat unmittelbar ein. Umso mehr machen der Buchtitel und der erste, einleitende Satz neugierig; sie wecken die Erwartung, zu erfahren, was genau hier unter den Begriffen ‘Blatt’, ‘Kommunikation’ und ‘Medium’ zu verstehen sei.

Eine Definition dessen, was im Alltag selbstverständlich als ‘Blatt’ gilt, ist tatsächlich ein schwieriges Unterfangen. Man fühlt sich jedoch keineswegs wohler bei der Sache, wenn man Faulstichs Argumentation folgt, die methodisch ziemlich fragwürdig ist. So wird ohne genauere Begründung postuliert, bei der Recherche ließen sich “etwa 40 verschiedene Arten und Formen des Mediums Blatt unterscheiden” (8), die zwar teils deckungsgleich oder überlappend seien, aber dennoch in einer Liste (der ersten von vielen in diesem Buch) aufgeführt werden. Dass Bezeichnungen wie “Abziehbild”, “Bierdeckel”, “Folie”, “Kontoauszug”, “Papier”, “Preisschild”, “Schriftstück” und “Spottblatt” (9) dabei keineswegs auf derselben Ebene angesiedelt sind, wird nicht näher thematisiert. Faulstichs Medienbegriff ist (trotz der Vermischung verschiedener Kategorien) eigentlich ein funktionaler: er unterscheidet nach Informationsfunktion, Belegfunktion, Spiel- und Unterhaltungsfunktion, Bezahlfunktion, Speicherfunktion und Werbefunktion des Blattes. Ob dieses überhaupt ein Medium sei, bejaht Faulstich im Rückgriff auf seine eigene Erweiterung von Saxers Mediendefinition sehr kursorisch (vgl. Faulstich 2004); zusätzlich führt er die Kategorie der Alltagsmedien ein, deren Benutzung – wie es heißt – selbstverständlich geworden sei, sodass Medienhandeln nicht mehr als solches bewusst werde (22).

So bleiben bereits nach der Lektüre der Einleitung viele Fragen offen. Etwa die, woher der Autor weiß, dass es sich bei der von ihm gesammelten Fülle heterogener, funktionell und operativ-alltagssprachlich bestimmter Bezeichnungen um eine zwar erstaunlich große, “numerisch aber endliche” (8) Zahl handle. Ob diese Listen und Aufzählungen – auch vorausgesetzt, sie ließen sich nicht historisch und hierarchisch unendlich weiter differenzieren – als methodische Grundlage taugen, bleibt fraglich; die der Einleitung folgenden 15 Texte verlassen sich jedoch voll und ganz auf diese Basis.

In dem Band wird “eine Reihe von Pilotstudien vorgestellt, die in den letzten beiden Jahren am IfAM-Institut für Angewandte Medienforschung der Universität Lüneburg angefertigt wurden” (23). Über die einzelnen Autorinnen und Autoren ist leider nirgends mehr zu erfahren. Aller Wahrscheinlichkeit nach bezieht sich diese verklausulierte Beschreibung jedoch auf studentische Arbeiten. Es fällt schwer, die mit spürbarem Eifer erstellten “Pilotstudien”, die in zwei Themenkomplexe (“Versionen des Blatts im Alltag” und “Bedeutungen und Funktionen des Blatts in kommunikativen Binnenräumen”) unterteilt sind, angemessen zu würdigen und weiterführend zu besprechen. Ihre empirische Basis ist stets so schmal, die daraus gezogenen Schlüsse sind so wenig gesichert, dass sich viele der Texte unglücklicherweise an der Grenze zur Wissenschaftsparodie bewegen.

Einige Beispiele: Medizinische Beipackzettel werden anhand von 54 zufällig gesammelten Exemplaren aus dem eigenen sowie aus bekannten Haushalten untersucht – daraus entstehen dann volle zehn Tabellen, die Papierqualität, Schriftgröße oder Fachwörteranteil zählen und messen. Der Umgang von 9 Personen mit Kochrezepten oder von 94 Supermarktbesuchern mit ihrem Einkaufszettel wird durch eine Befragung analysiert, und die Speisekarten von 20 Hamburger Gastronomiebetrieben geben Anlass für spekulative Argumentationsketten. Die persönliche Beteiligung der Autorinnen und Autoren wird in diesen Zusammenhängen überdeutlich, wenn etwa bei der Untersuchung des “Kommunikationsraums Schule” während einer Hospitation Interviewaussagen der Lehrerinnen und Lehrer zu ihrem Umgang mit Notizzetteln gesammelt werden oder das Blatt im studentischen Alltag untersucht wird. Methodisch akzeptabler, wenn auch nicht inspirierender, sind die historischen Abrisse, die auf wenigen Seiten vorhandene Literatur zu Spielkarten, Visitenkarten oder Flugblättern bündeln und auf eigene Datenerhebung verzichten.

Fazit: Man fragt sich, wer aus diesem Buch einen Nutzen ziehen soll. Hat die angewandte Medienforschung wirklich ein Interesse daran, den mit dem Lineal millimetergenau ermittelten Platz, den “negative Angaben” wie Wechselwirkungen etc. auf den untersuchten 54 Beipackzetteln einnehmen, in einer großen Tabelle aufgeführt zu sehen? Aus einem Säulendiagramm zu erschließen, ob mehr Männer oder Frauen bei einer Umfrage unter einigen Restaurantgästen (eine Gesamtzahl der Befragten fehlt) in ihren Speisekarten eine “Unterhaltung im Sinne von Kunstobjekt” sahen? Zu wissen, dass an einem nicht näher benannten Kulturinstitut an Montagen durchschnittlich 385,2 Blätter verwendet wurden, an Mittwochen hingegen nur 50,33? Die Unschärfe der Kategorien und die empirisch irrelevanten Zufallserhebungen kontrastieren – nicht ohne unfreiwillige Komik – mit der Scheinevidenz all der kleinen, sorgfältig ausgearbeiteten Tabellen und Diagramme. Es ist den emsig bemühten (zukünftigen?) Medienforschern zu wünschen, dass sie im Verlauf ihres beruflichen Werdegangs die Möglichkeit erhalten, die hier geübten Verfahren wenigstens an relevanteren Datenmengen zu erproben und dabei auch offene Fragestellungen zu entwickeln, statt nur Vorgaben zu bestätigen.

Das historisch aufgezogene Schlusswort Werner Faulstichs spricht einige wichtige Punkte an (die Mobilität und Speicherfunktion des Blatts, seine Übersichtlichkeit, Formenvielfalt und gesellschaftliche Ubiquität), versucht diese jedoch in einem Parforceritt durch alle historischen Epochen seit den Anfängen der Menschheit zu begründen. Ungleichzeitigkeiten und Brüche in der Schrift- und Mediengeschichte werden unterschlagen, stattdessen entsteht das Bild einer doppelten Einbahnstraße von den Sumerern bis ins Computerzeitalter: die Nutzer beherrschen dabei einseitig die Medien und werden nicht von ihnen geprägt, gelenkt oder angeregt; und die Entwicklung verläuft kontinuierlich hin zu immer mehr Medienkompetenz und medialer Ausdifferenzierung. Ein Ansatz, der die komplexen Verflechtungen von Menschen in medialen Kontexten fokussiert und statt auf Eindeutigkeit eher auf genaue Analyse solcher Komplexität zielt, wäre hier vorzuziehen gewesen.

Faulstichs Fazit verstärkt den Eindruck, dass das gesamte Buch als ein Zirkel funktioniert. Wenn er in der Einführung von einer langen Liste von Formen des Blatts ausgeht, so ist es wenig erstaunlich, dass im Fazit dessen Formenvielfalt eines der Ergebnisse ist. Wenn er von einer ausdifferenzierten funktionalen Definition des Blattes ausgeht, liegt die Multifunktionalität als ein weiteres Ergebnis nahe. Wenn er “andere Medien” wie den Brief, das Plakat, die Broschüre ausschließt, so sind Kleinräumigkeit und individuelle Verfügbarkeit – auch diese werden als Ergebnisse des Bandes präsentiert – kaum mehr erstaunlich. Und wenn er erstens Medien (an Saxer angelehnt) als organisierte Kommunikationskanäle versteht, über die autonome Subjekte in einem sozialen Raum frei verfügen, und das Blatt zweitens als ein Medium definiert, so versteht sich die “universelle[…] Medienkompetenz seiner Nutzer” (207) wohl von selbst und ist kaum ein durchschlagender Forschungserfolg.

Die Frage, was genau ein Blatt ist, bleibt folglich unbeantwortet. Ein Verdienst des Buches ist jedenfalls, das Blatt umso deutlicher als Forschungsdesiderat wie als Faszinosum zu zeigen. Die schiere Vielfalt von Blättern (die Faulstich auch deutlich herausstellt), ihre Materialität, ihre grundlegende Zweiseitigkeit, die verhindert, dass recto und verso zugleich in den Blick genommen werden können, ihre Begrenztheit, die (in den meisten Fällen) einen blitzartigen Überblick über die Fläche ebenso wie ein langes Starren im Sinne einer wilden Semiose (Assmann 1988) ermöglichen: all dies sind mögliche Zutaten zu dem, was ein Blatt ausmacht, jedoch keine hinreichenden – ebenso wenig wie die Erwartungen an einen interessanten Buchtitel und die (Schein)Evidenzen der Tabellen hinreichend sind für ein erhellendes Leseerlebnis. Schade darum.

Literatur:

  • Assmann, A.: “Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose.” In: Gumbrecht, H. U.; Pfeiffer, K. L. (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 1988, S. 237-251.
  • Faulstich, W: Medienwissenschaft. Paderborn [Wilhelm Fink Verlag] 2004.

Links:

Über das BuchWerner Faulstich (Hrsg.): Das Alltagsmedium Blatt. München [Wilhelm Fink Verlag] 2008, 216 Seiten, 34,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseWerner Faulstich (Hrsg.): Das Alltagsmedium Blatt. von Köppel, Rea in rezensionen:kommunikation:medien, 3. Mai 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/739
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