Eric Karstens; Jörg Schütte: Praxishandbuch Fernsehen

Einzelrezension
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Rezensiert von Michael Steinbrecher

Einzelrezension
Ein Praxishandbuch Fernsehen? Was habe ich mir darunter vorzustellen? Die erste Assoziation: Es gibt schon viele praktisch orientierte Ratgeber, die sich mit redaktionellen Fernsehberufen und Darstellungsformen beschäftigen. Wie erstelle ich ein Drehbuch? Was muss ich im Interview beachten? Welche Tipps gibt es für die Moderation von TV-Sendungen? Diese Publikationen sind oft anschauliche Einstiegslektüre. Mehr nicht (und mehr wollen sie auch nicht sein). Die zweite Assoziation: Brauchen wir noch eins von dieser Sorte? Erik Karstens und Jörg Schütte wollen mehr, sogar deutlich mehr. Ihr Ziel: Beschreiben, “wie TV-Sender” arbeiten. Schon der Umfang des Buches (439 Seiten inkl. Anhang) signalisiert den Anspruch: Nicht weniger als ein Standartwerk ist beabsichtigt. Als solches wird das 1999 erstmals erschienene und nun in zweiter Neuausgabe veröffentlichte Praxishandbuch auch angekündigt.

Vorab: Die Lektüre des Buches lohnt sich, auch weil die Zielgruppe so weit gefächert ist. Die Autoren beschäftigen sich nicht ausschließlich mit redaktionellen Fragestellungen. Sie bemühen sich, durch die Vielfalt der Perspektiven ein differenziertes Bild der Fernseharbeit zu zeichnen. Praxishandbuch Fernsehen gibt bereits im ersten Kapitel Auskunft über die historische Entwicklung des Mediums und berücksichtigt dabei (medien-)rechtliche und politische Grundlagen sowie volkswirtschaftliche Aspekte und Marktstrategien (ergänzt durch eine vergleichende Betrachtung des US-Fernsehmarktes).

Ein (zu) großes Themenspektrum? Entsprechend perspektivenreich geht es in den nächsten Kapiteln weiter. Von “Programm und Produktion” über “Kommunikation, Marketing und Werbung”, “Organisation und Forschung” bis zu den “Zukunftsperspektiven” – die Autoren wollen in der Tat nicht weniger als den “großen Wurf”. Deutlich wird schon aus dieser inhaltlichen Beschreibung: Die größte Stärke dieser Publikation ist gleichzeitig die signifikanteste Schwäche. Wer versucht, ein derart großes inhaltliches Spektrum zu erfassen, kann im Detail nicht die Tiefe in der Betrachtung erreichen, die manchem Thema angemessen wäre.

Besonders deutlich wird dies zum Beispiel in der Beschreibung der Sendeformen, die sehr holzschnittartig wirkt. Dem Genre “Talkshow” mit seiner eigenen, differenzierten Fernsehhistorie werden nur zwei Absätze gewidmet. Der Vielzahl unterschiedlichster Sendungen mit teils völlig gegensätzlichen redaktionellen Intentionen wird das nicht ansatzweise gerecht. Dies ist den Autoren allerdings nicht vorzuwerfen, da jede Publikation, die sonst oft getrennt betrachtete, sehr komplexe Themenaspekte in einem Standartwerk zu verknüpfen versucht, mit dieser Problematik leben muss.

Die Kapitel sind insgesamt lesenswert, bieten auch zu redaktionellen Themen informative bis originelle Zugänge und können in der Tat ein Standart-Einstieg in die behandelten Fragestellungen sein. Die große Leistung der Autoren besteht darin, die in den TV-Sendern oft von getrennten Abteilungen verantworteten Teilbereiche zu einer Gesamtbetrachtung zu verknüpfen.

Soweit – so gut? Nicht ganz. Das Fernsehen ist zwar trotz des Booms des Internets wie von den Autoren beschrieben nach wie vor (zumindest in den älteren Generationen) das Leitmedium, aber es befindet sich in einem dynamischen Wandlungsprozess. Die in den letzten Jahren entwickelte crossmediale Dynamik wird von den Autoren zwar gegen Ende des Buches thematisiert, aber das Kapitel “Fernsehen in der digitalen Welt” wirkt in dieser “erneut durchgesehenen zweiten Neuausgabe” wie ein nachträglich hinzugefügter Appendix.

Auch neuere Sendeformen wie die aktuell boomenden “Scripted-Reality”-Formate werden nicht in angemessener Form vorgestellt und diskutiert. Dies ist bedauerlich, weil mit den neuen Formen, die oft unterschiedliche frühere Formate kombinieren, für Redakteure, Filmemacher und alle an der Produktion beteiligten Personen neue Produktionsweisen entstehen. Außerdem spiegeln sie die Diskussion unter Machern: Welche oft kontrovers diskutierten Formate passen zu unserem Sender, welche nicht?

Hier greift ein zweites, immer wiederkehrendes Grundproblem. Stellen sich die Autoren der Herausforderung, eine “Neuausgabe” auch zu einer völlig “neuen Ausgabe” zu gestalten? Die Entwicklungen der letzten Jahre würden eine veränderte Schwerpunktsetzung durchaus rechtfertigen, ja beinahe verlangen. Will dieses Praxishandbuch ein Standartwerk bleiben, muss es sich spätestens in der nächsten Aktualisierung den weitreichenden aktuellen Entwicklungen intensiver widmen.

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Über das BuchEric Karstens; Jörg Schütte: Praxishandbuch Fernsehen. Wie TV-Sender arbeiten. 2. akt. Auflage, Wiesbaden [VS Verlag] 2010, 439 Seiten, 34,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseEric Karstens; Jörg Schütte: Praxishandbuch Fernsehen. von Steinbrecher, Michael in rezensionen:kommunikation:medien, 10. August 2011, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/5540
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