Rezensiert von Benjamin Drechsel
Der pictorial turn zieht immer weitere Kreise. Unterdessen häufen sich die systematischen Bemühungen um die Erforschung visueller politischer Kommunikation. Politikwissenschaftliche Arbeiten in diesem Bereich waren bislang oft an der Schnittfläche zur Kunstgeschichte angesiedelt und argumentierten insofern aus einer Außenseiterposition heraus. Ganz anders die hier zu besprechende Dissertation von Moritz Ballensiefen, dem es auf etwa 400 Seiten gelungen ist, visuelle Politik ganz und gar aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu erfassen. Ballensiefens Arbeit beruht auf zwei Grundannahmen: Einerseits hält er Bilder für zentrale Instrumente politischer Kommunikation in der Mediengesellschaft; andererseits macht er zu Recht geltend, dass die Politikwissenschaft viele Bereiche dieses Themenfeldes bislang weitgehend vernachlässigt hat. Dazu zählt er auch die von den Parteien unabhängige Medienkommunikation zu Wahlkampfzeiten.Von diesen Beobachtungen ausgehend, zeigt Ballensiefen am Beispiel des Bundestagswahlkampfs 2005 auf, welche Anleihen die politikwissenschaftliche Kommunikationsforschung wo nehmen müsste, um Bilder in den Blick zu nehmen, ohne dabei ihren eigenen methodologischen Ansprüchen untreu zu werden. Den konkreten Anlass gab dabei ein Fernsehereignis (273-281): In der “Elefantenrunde” am Wahlabend des 18. September 2005 äußerte Bundeskanzler Gerhard Schröder eine heftige Medienschelte und behauptete, er sei zum Opfer einer Kampagne geworden. Diesen Vorwurf entkräftet Ballensiefen – zumindest bezüglich der Bildstrategien in den von ihm untersuchten deutschen Printmedien. Ausgewählt hat er für seine Inhaltsanalyse die “Bild“-Zeitung als wichtigstes nationales Boulevardblatt, die “Financial Times Deutschland” als Wirtschaftszeitung, die “Süddeutsche Zeitung” als führende überregionale Qualitätszeitung, die “Welt” als deren politisches Gegenstück sowie die “Westdeutsche Allgemeine Zeitung” als größte Regionalzeitung.
Zu den typisch sozialwissenschaftlichen Stärken der Arbeit zählt ihre klare Struktur mit vier forschungsleitenden Fragen (57f.):
- Welche visuellen Beeinflussungsformen lassen sich in der untersuchten Berichterstattung nachweisen?
- Wie wurden Gerhard Schröder und seine CDU-Konkurrentin Angela Merkel abgebildet?
- Gab es dabei einen Veränderungsprozess?
- Unterscheidet sich die Bildersprache der untersuchten Printmedien untereinander?
Bevor diese Fragen explizit beantwortet werden, erfolgen ausführliche Forschungsüberblicke und theoretische Vorarbeiten. Zunächst legt Ballensiefen den Untersuchungsrahmen dar (26-78) und führt in Grundprobleme der visuellen Kommunikationsforschung ein (79-159), dann folgen systematische Überlegungen zur Wahlkampfkommunikation in der Mediendemokratie (160-242) und schließlich eine allgemeine Einordnung der Bundestagswahl 2005 mitsamt der dazugehörigen Berichterstattung (243-283). Dabei wird eine Fülle unterschiedlicher Forschungskonzepte aufgearbeitet. Mehrfach wiederholt der Autor sein Anliegen einer politikwissenschaftlichen Fundierung seines Forschungsansatzes zur visuellen politischen Kommunikation. Insofern dient der bewusst unvollständige (80) Abriss zu Bildanalysemethoden lediglich dazu, die Genese der im letzten Kapitel an die Tageszeitungen angelegten inhaltsanalytischen Kategorien zu erklären. Wichtige Konzepte sind in diesem Zusammenhang etwa Siegfried Freys körpersprachlich orientiertes “Berner System” oder das Modell der “Schlüsselbilder” des Kommunikationswissenschaftlers Peter Ludes. Einzelne Ansätze werden allerdings sehr verkürzt dargestellt; im Zusammenhang mit der Semiotik (114-117) etwa fehlen eine klare Gegenstandsdefinition sowie Hinweise zum aktuellen bildwissenschaftlichen Streit um den Zeichencharakter der Bilder oder auch zu einem zentralen Referenzautor wie Roland Barthes. Anregender sind die skizzenhaften Überlegungen zum Zusammenhang von Bildern mit Evidenz, Lüge, Macht und Skandalisierung (135-156). Hier wie in den weiteren Teilen des Buchs erweist sich der Autor tendenziell als Bildskeptiker. Auch diese Haltung hat eine gewisse sozialwissenschaftliche Tradition, wird jedoch sehr selten so differenziert ausgeführt.
Das Kapitel zur Wahlkampfkommunikation arbeitet den einschlägigen Forschungsstand in Verbindung mit der Verwendung von Bildmedien auf und zeigt, dass Visualisierung neben Boulevardisierung, Personalisierung oder Skandalisierung ein aktueller Trend ist. Ihr Potenzial zur Erzeugung von Aufmerksamkeit und Glaubwürdigkeit macht Bilder für politische Kommunikatoren reizvoll. Ballensiefen positioniert sich nachvollziehbar kritisch zur angesprochenen Entwicklung, zeigt aber beispielsweise auch, dass die Personalisierung eine wichtige Orientierungsfunktion bieten kann (173).
Die abschließende Auswertung der Inhaltsanalyse (284-388) belegt nachdrücklich die Tendenz zur visualisierenden Personalisierung von Wahlkämpfen. Viele der aufschlussreichen Beobachtungen können nachdenklich stimmen: so etwa indirekte Formen der visuellen Wahlempfehlung, die Marginalisierung anderer Politiker gegenüber Gerhard Schröder und Angela Merkel oder der Negativ-Bias, der beiden politischen Persönlichkeiten in diesem Zusammenhang anhaftet. Viele Ergebnisse wären näher zu diskutieren, beispielsweise die Ausprägung verschiedener Phasen der Bildberichterstattung oder die Manipulationsfrage (294-297). Der Autor konnte hier nur solche Motive in seine Analyse aufnehmen, die offensichtlich bearbeitet waren, und findet etwa in der “Bild”-Zeitung viele nicht gekennzeichnete Fälle dieser Art. Veränderungen, die mit bloßem Auge sofort erkennbar sind, dürften allerdings die weniger problematischen Manipulationsformen sein.
Das Buch schließt mit dem Fazit, dass neben den politischen Akteuren auch die Politikwissenschaft gut beraten wäre, sich um mehr “Macht über die Bilder” (402) zu bemühen. Der Autor hat eine der bislang stringentesten Bemühungen vorgelegt, genau dies zu erreichen.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Moritz Ballensiefen an der NRW School of Governance
- Webpräsenz von Benjamin Drechsel am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen