Nick Srnicek: Plattform-Kapitalismus

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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension

Über den anstehenden strukturellen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft infolge der fortschreitenden Digitalisierung sei schon viel diskutiert und publiziert worden, schreibt der Nick Srnicek einleitend. Er lehrt Internationale Politische Ökonomie mit dem Schwerpunkt Digitale Geisteswissenschaften an der University of London. Allerdings vermisst der Autor einen umfänglichen, auch zeithistorischen Blick auf den Kapitalismus und die involvierten technologischen Innovationen, weshalb er sein Bändchen auf die großen Technologie-Firmen und Plattformen fokussiert, gewissermaßen wie ein Prisma auf die sich neu entwickelnde Formation des “Plattform-Kapitalismus” als Prototyp der Digitalwirtschaft.

Denn diese Plattformen – thematisiert werden vor allem Microsoft, Google, Uber, Facebook, Amazon, aber auch noch einige spezielle – seien die dynamischsten Akteure der Digitalwirtschaft, sie seien systemrelevant und können somit als “Ideale” des modernen Kapitalismus dargestellt werden, begründet der Autor seine paradigmatische Perspektive. Deren zentrale These lautet: Wegen der seit Langem sinkenden Profitabilität der industriellen, materialen Produktion konzentriert sich die kapitalistische Wirtschaft zunehmend auf die Produktion, Sammlung, Diffusion und Anwendung von Daten als neue, bislang erfolgssichere Option, wirtschaftliches Wachstum und Vitalität zu erhalten und zu stärken (vgl. 11).

In drei Kapiteln, auf gut 140 Seiten in kleinem Format, übersichtlich und verständlich entwickelt der Autor sein Konzept des prototypischen Digitalkapitalismus. Jedes Kapitel schließt zudem mit einer Schlussfolgerung ab. Zunächst rekonstruiert der Autor die jüngste Geschichte der Digitalwirtschaft besonders in den USA und Großbritannien als “langen Niedergang” der industriellen Produktion seit den 1970er Jahren, danach den Boom und das Platzen der Dotcom-Blase im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und endlich die Finanz- und Immobilienkrise um 2008. Sie bewirkte eine Geldflut und Niedrigzinsen, für die Investitionsmöglichkeiten gebraucht wurden. Dadurch entstand gewissermaßen ein üppiger Nährboden für neue technische Innovationen.

Im zweiten Kapitel charakterisiert Srnicek den entstehenden und heute dominanten Plattform-Kapitalismus. Rasch wurden die digitalen Garagen-Erfindungen mit den brach liegenden Ressourcen in rentable Geschäftsmodelle transferiert, allen voran Microsoft und Apple, danach die Anwendungen von Google, Amazon und anderen. Auch in den herkömmlichen Produkten wie Maschinen, Autos, Haushaltswaren wie Kühlschränke und Waschmaschinen werden digitale Komponenten implementiert. Die sogenannte Immaterielle Ökonomie oder auch Wissensökonomie wuchs, die klassische Produktion schrumpfte, die Finanzbranche expandierte enorm, und die De-Industrialisierung überzog ganze Landstriche.

Plattformen als “digitale Infrastrukturen“ (46) und Netzwerke offerier(t)en ihre diversen Vermittlungsdienste für viele Wirtschaftsakteure. Srnicek unterscheidet dabei fünf Typen: erstens Werbeplattformen (wie Google und Facebook), zweitens Cloud-Plattformen (wie WAS und Salesforce), drittens Industrieplattformen (wie Siemens und GE), viertens Produktplattformen (wie Rolls Roys und Spotify) und fünftens schlanke Plattformen (wie Uber und Airbnb). Solche Einteilungen seien nicht immer leicht, beispielsweise erfülle Amazon praktisch die Kriterien aller fünf Plattformtypen (vgl.53).

“Große Plattform-Kriege” überschreibt der Autor sein drittes und letztes Kapitel und will mit ihm in das Zentrum des digitalen Kapitalismus vordringen. Er fragt danach, ob der Kapitalismus in dieser Formation “neues Leben” (95) gewinne, ob in der digitalen Ära “weiterhin Wettbewerb” herrsche oder ob sich ein “neuer Monopolkapitalismus” durchsetze (ebd.). Denn Netzwerke neigen zur Monopolbildung, wie die großen Plattformen Google, Facebook und Amazon mit ihren branchenübergreifenden Expansionen rigoros demonstrieren.

Srniceks Zukunftsperspektive ist nicht sehr optimistisch: Er setzt wie viele idealistische Modelle einerseits auf kooperative, auch gemeinwirtschaftliche Initiativkonzepte und Wettbewerber, zum anderen auf staatliche Regulierungsvorstöße bis hin zu verstaatlichten Plattformen. Sein eher verhaltenes Fazit: “Plattformen dringen immer tiefer in unsere digitale Infrastruktur ein, und die Gesellschaft wird immer abhängiger von ihnen. Deshalb ist es ungemein wichtig, dass wir begreifen, wie sie funktionieren und was wir tun können” (127). Zur sachlich-nüchternen Aufklärung darüber trägt sein schmales Bändchen gut nachvollziehbar bei.   

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Über das BuchNick Srnicek: Plattform-Kapitalismus. Hamburg [Hamburger Edition] 2018, 144 Seiten, 12 Euro.Empfohlene ZitierweiseNick Srnicek: Plattform-Kapitalismus. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 29. Oktober 2020, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22368
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