Philipp Staab: Digitaler Kapitalismus

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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension
2014 veröffentliche der bekannte amerikanische Wirtschafts- und Technikhistoriker Dan Schiller sein zweites Grundlagenwerk zum digitalen Kapitalismus. Und weil die beschriebenen empirischen Entwicklungen fortschreiten, besonders die globalen Expansionen des Informations- und Kommunikationstechnologie-Sektors sich in allen Teilen von Wirtschaft und Gesellschaft ausdehnen und massieren, will der an der Humboldt-Universität Berlin lehrende Arbeitssoziologe Philipp Staab gewissermaßen Schillers Buch ein drittes Mal schreiben, allerdings mit stärkerer analytischer und generalisierender Intention: als “umfassende Diagnose zur Digitalisierung der Ökonomie” (14). Dabei rekonstruiert und entwickelt er aus ökonomischer Sicht die grundsätzlichen Strukturen und Veränderungen – wenn auch mitunter in verknappter Abstraktion – ungleich fundierter und kategorischer als viele anderen, die mit der puren Beschreibung empirischer Anschaungsfelder oder auch nur mit spekulativen Beschwörungen fataler Tendenzen aus der Sicht Staabs in “tautologische” Sackgassen (12) geraten. Dann ist letztlich das “Digitale am digitalen Kapitalismus […] die digitale Technologie” (Ebd.).

Vielmehr müsse herausgearbeitet werden, dass die schon im ‘früheren’ Kapitalismus grassierende, klassische Konzentration sowie Monopolstrategien im Kapital- und Warenmarkt nunmehr umschlagen in die “Logik proprietärer Märkte” und sie zum “dominierenden Produktionsmodell” werden (35). Während bislang (und wohl auch noch vielerorts weiterhin) Industrien, Handwerk und Dienstleistung Produkte, Arbeiten und Dienste herstellen und über den Markt mit Gewinn verkaufen, geht es den so genannten GAFA-Konzernen primär darum, diese Märkte zu besitzen und sie als digitale Infrastrukturen für möglichst alle Bedarfe – auch mittelbar – zu verwerten. Danach definiert sich der digitale Kapitalismus über den grundlegend neuen Parameter der “relativen Unknappheit digitaler und digitalisierter Güter” mit verschwindend geringen zusätzlichen Kosten (Grenzkosten) (77) – im Vergleich zur klassischen Knappheitswirtschaft.

Diese Kennzeichnung mag wohl für die ‘avangardistische’ Spitze der IT-Branche zutreffen, nicht aber für die breite wirtschaftliche Reproduktion, wo digitale Technologien noch weithin die Produktion und Logistik materieller Güter und Dienstleistungen unterstützen, und erst recht nicht hinsichtlich vieler Knappheitsbereiche selbst in den entwickelten Industrienationen wie Wohnraum, ausreichende gesundheitliche Versorgung, saubere Umwelt, hinreichende Bildung, soziale Deprivation etc., aber vollends auf der ärmeren südlichen Erdhälfte, wo nach wie vor in vielen Gegenden massive Not an allen natürlichen Lebensgrundlagen herrscht. Um also Ausmaß und Potenzial des digitalen Kapitalismus als “Ökonomie der Unknappheit” angemessen einschätzen können und ihre weitere Entwicklung und Einflussnahme zu prognostizieren, bedürfte es solcher Relativierung und Proportionierung in den jeweiligen Volkswirtschaften.

Immerhin, das Paradigma ist gesetzt und verspricht für weitere Studien konstruktiv und leitend zu werden. In den weiteren Kapiteln ergründet Staab zunächst die Wurzeln des digitalen Kapitalismus, vor allem die Rolle des Staates, die er bis zum keynesianischen “Unternehmerstaat” (50) des Kalten Krieges und zum Wachstumsboom der 1970er Jahre zurückverfolgt. Das 3. Kapitel befasst sich mit dem ökonomischen Kern, der Logik des Kapitals, besonders mit dem Aufstieg des mit dem kommerziellen Internet untrennbar verbundenen Risikokapitals. Es bewirkt nicht nur die enge Verflechtung zwischen IT-Konzernen und Finanzkapital und damit speziell neue ökonomische Effekte, die überkommene Entwicklungen wie Konjunkturverläufe und Akkumulationen außer Kraft setzen, sondern verschärft auch die ungleiche Verteilung gesellschaftlichen Reichtums und privater Vermögen. Im digitalen Kapitalismus mutiert der Markt in (proprietäre) Metaplattformen, die nicht zuletzt die Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes wie die Strukturierung der Arbeit steuern – so die weitere These.

Im wesentlichen vier Kontrollstrategien markieren diese Veränderungen: Erstens zielt die Informationskontrolle auf die exklusive Aneignung der Marktdaten. Zweitens ermöglicht diese Informationsmacht eine effektive Kontrolle des Zugangs zum eigenen Marktplatz. Damit ist nicht nur ein eigenes Geschäftsfeld eröffnet, sondern drittens auch eine attraktive und wirksame Strategie der Preiskontrolle. Schließlich ergeben sich massive Leistungskontrollen für Produzenten und Marktbetreiber, um bis ins Detail die Bedingungen der Leistungserbringung zu diktieren. Wie sich diese Formierungen auf die Arbeit auswirken, wird im nächsten Kapitel expliziert, das sich allerdings weitgehend auf das so genannte “algorithmische Management” (233) fokussiert und für die konkreten Veränderungen und Differenzierungen der Arbeit gerade aus arbeitssoziologischer Sicht (noch) relativ abstrakt und prognostisch zurückhaltend bleibt. Interfaces, Trackings und Ratings seien solch neue Kontrollmethoden jenes Managements, mit denen der gesamte Workflow überwacht wird und an die unmittelbare Sanktionen gekoppelt werden.

Wie sich die soziale Ungleichheit weiter verschärft und systematisch gesellschaftliche Segmente infiltriert, beschreibt Staab zusammenfassend anhand der Privatisierung und Kommodifizierung öffentlicher Güter, der Erzeugung so genannter “finanzieller Risikokaskaden” (270), womit das Finanzkapital die Risiken auf die schwächsten Anteilseigner hinunterdrückt, der “Appropriation der Renten aus Marktbesitz” (266), wodurch die digitale Infrastruktur sämtliche kapitalistische Akkumulationsmechanismen sukzessive aushebelt, und endlich an der “Enteignung der Arbeit” (Ebd.), womit letztlich Lohndumping und die Übertragung von ökonomischem Wohlstand vom Faktor Arbeit auf den Faktor Vermögen gemeint sind.

Fraglos sind all diese Ausführungen in der vorgebrachten abstrakten Knappheit für wirtschaftswissenschaftliche Laien starker Tobak und sie verdienten alle anschauliche, konkrete Erläuterungen, zumal die angekündigten Ausblicke auf eine mögliche “gute digitale Gesellschaft” europäischer Prägung (52) auch nicht völlig befriedigen. Denn die Besteuerung oder gar Entflechtung der mächtigen IT-Konzerne, die Regulierung der proprietären Märkte, strengere Transparenzpflichten für “proprietäre Algorithmen” sowie generell die Restituierung der Staatsmacht gegenüber der dominierenden Wirtschaft – diese genannten Maßnahmenvorschläge sind gewiss alle wichtig, notwendig und nicht ganz ohne Einfluss, aber für eine grundsätzliche Wende dürften sie kaum ausreichen.

Und wenn der Autor zugleich kritisiert, dass in der “politischen Klasse” nach wie vor “neoliberale Denkmuster” vorherrschen und allenfalls eine zaghafte “Navigation” zwischen diesen und den Ideen über “unveräußerliche Werte” (301) zu beobachten sind, dann dürfte es um die Realisierung dieser anderen, recht utopischen Gesellschaft nicht zum Besten bestellt sein. Daher sollte an diesem vielversprechenden Ansatz des “digitalen Kapitalismus” in theoretischer Konzeption wie in empirischer Konkretion weitergearbeitet werden.

Links:

Über das BuchPhilipp Staab: Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Berlin [Suhrkamp] 2019, 345 Seiten, 18,- Euro.Empfohlene ZitierweisePhilipp Staab: Digitaler Kapitalismus. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 10. August 2020, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22221
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