Thomas Hanitzsch, Josef Seethaler, Vinzenz Wyss (Hrsg.): Journalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz

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Rezensiert von Roger Blum

Einzelrezension
Das Buch ist eine Premiere: Schon mehrmals wurde der Journalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz untersucht, aber noch nie gemeinsam und mit identischen Fragen. Allerdings überfällt einen bei der Lektüre zunächst gähnende Langeweile, weil die Ergebnisse der Studie nichts Neues über die 41.000 deutschen, 4.000 österreichischen und 10.000 schweizerischen Journalistinnen und Journalisten vermitteln. Doch dann kommt es faustdick und brisant: Die befragten Medienleute schreiben sich zu über 90 Prozent die Rolle der neutralen Informationsvermittlung zu, stufen aber die Rolle der Kritik und Kontrolle als nahezu vernachlässigbar ein. Nur 20 Prozent in Deutschland und in Österreich, nur 22 Prozent in der Schweiz sehen sich als Gegengewicht zur Regierung, während es in den USA 86 Prozent sind. Zwar haben bloß 29 Prozent der deutschen, 13 Prozent der österreichischen und 47 Prozent der schweizerischen Journalisten Vertrauen in die Regierung, und deutliche Mehrheiten finden, dass man gelegentlich vertrauliche Regierungsdokumente ohne Erlaubnis verwenden darf, aber kontrollieren wollen sie die Regierungen dennoch nicht. Hier zeigt die Studie, dass Handlungsbedarf besteht und dass die journalistische Community in den drei Ländern eine Selbstverständnisdebatte führen muss!

Über 90 Prozent sagen überdies, dass sich Journalisten immer an die Berufsethik halten sollen, unabhängig von Situation und Kontext, aber zwischen 40 und 60 Prozent sagen gleichzeitig, was ethisch vertretbar sei, hänge von der konkreten Situation ab. Damit widersprechen sie sich selber. Die Studie ergibt ferner, dass sich der Journalismus im rasanten Wandel befindet, der sich vor allem in Veränderungen in ökonomischer (mehr Wettbewerb, mehr Rücksicht auf die Profiterwartung), technologischer (Internet-Suchmaschinen, Einfluss der Social Media), gesellschaftlicher (mehr Publikums-Einbezug) und organisatorischer (mehr Zeitdruck) Hinsicht manifestiert. Der Frauenanteil ist leicht gestiegen, aber skandalös ist, dass die Journalistinnen nach wie vor rund ein Viertel weniger verdienen als ihre männlichen Berufsgenossen. Gestiegen ist auch der Akademisierungsgrad. Zum Ausdruck kommt zudem der Druck, sich stärker an Sensationen zu orientieren. Josef Seethaler bilanziert: “Wie sensibel die Frage nach dem Entscheidungsfreiraum, aber auch nach dem Stellenwert der Recherche ist, zeigt ihre – überraschende – Verknüpfung mit den das Image des Journalismus beeinflussenden Faktoren: seine Glaubwürdigkeit und gesellschaftliche Relevanz werden wie die Geltung ethischer Standards nicht bloß als gesunken, sondern im internationalen Vergleich auf ein relativ tiefes Level gesunken wahrgenommen.”

Politisch stufen sich die Journalistinnen und Journalisten weiterhin leicht links der Mitte ein (Wert 4,0 in Deutschland und in der Schweiz und 4,7 in Österreich auf einer Skala von 0-10, wobei 0 extrem links und 10 extrem rechts bedeutet); sie wollen indes mit ihrer Arbeit kein Agenda Setting betreiben, nicht die politische Tagesordnung bestimmen und nicht die öffentliche Meinung beeinflussen, hingegen – vor allem in der direkten Demokratie der Schweiz und in dem hin und wieder zu einem Volksentscheid aufgerufenen Österreich – jene Informationen vermitteln, die Menschen zu politischen Entscheidungen befähigen.

Die Studie ist das Werk von Teams der Universität München (Thomas Hanitzsch, Corinna Lauerer, Nina Steindl), der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Josef Seethaler, Marlene Dietrich-Gsenger) und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (Vinzenz Wyss, Guido Keel, Filip Dingerkus). An der Befragung war außerdem die Université de Neuchâtel (mit Annik Dubied, Vittoria Sacco) beteiligt, die die französische und italienische Schweiz betreute. Die Grundlage der Studie bildeten Telefon- und Onlineinterviews mit 2502 Journalistinnen und Journalisten, die zwischen Herbst 2014 und Sommer 2015 durchgeführt wurden. Die Befragung war Teil der zweiten Welle der “Worlds of Journalism Study“, die 67 Länder erfasste. Der über 80 Seiten umfassende Tabellenteil im Buch beweist, wie aufwändig die Studie war. Bevor die Befragung überhaupt beginnen konnte, musste in mühseliger Arbeit recherchiert werden, wie groß die Grundgesamtheit der Journalistinnen und Journalisten in den drei Ländern ist: Wer gehört dazu? Was ist eine eigenständig agierende Redaktion? Welche Medientypen müssen ausgeschlossen werden?

Die Einbettung in die internationale Studie hat wohl bewirkt, dass leider einige Forschungsfragen nicht untersucht wurden: Wie steht es um die Eliteintegration im Journalismus? Ist die “Verhaberung” in Wien, der “Filz” in Bern überwunden? Ist die Journalismuskultur in den drei Ländern eher auf investigative Recherche oder eher auf Konkordanz mit der Macht ausgerichtet? Wie viele Journalistinnen und Journalisten sind weiterhin in den politischen Parallelismus eingebunden, indem sie für parteiliche Medien (wie Die Neue Freie Zeitung der FPÖ, Radio AfD oder die SVP-nahe Weltwoche) arbeiten? Wie spürbar ist die Staatskontrolle über die Medien? Mit welchen Beschwerdeverfahren des Publikums sind die Journalistinnen und Journalisten konfrontiert?

Die Essenz der Studie sollte nicht nur weitere Forschung anregen, sondern auch Debatten unter den Praktikern anstoßen. Der Wandel des Journalismus ist unbestritten und unaufhaltsam. Veränderte ökonomische Rahmenbedingungen scheinen schier unumstößlich. Aber viele Zustände sind ‘selbstverschuldet’ und durch die Community beeinflussbar.

Links:

Über das BuchThomas Hanitzsch, Josef Seethaler, Vinzenz Wyss (Hrsg.): Journalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wiesbaden [Springer VS] 2019, 382 Seiten, 44,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseThomas Hanitzsch, Josef Seethaler, Vinzenz Wyss (Hrsg.): Journalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz. von Blum, Roger in rezensionen:kommunikation:medien, 22. April 2020, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22161
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