Andrew DeGraff, A. D. Jameson: Cinemaps

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Rezensiert von Jürgen Stiller

Einzelrezension
Unter dem Titel “I Went” schuf der japanische Konzeptkünstler On Kawara zwischen 1968 und 1979 eine Serie besonderer Zeichnungen, indem er auf fotokopierten Stadtplänen unterschiedlicher Städte mit rotem Kugelschreiber die von ihm dort im Tagesverlauf zurückgelegte Wegstrecke eintrug und durch einen Datumsstempel des betreffenden Tages ‘besiegelte’: Das New Yorker Guggenheim-Museum stellt beispielsweise mit dem Stempel vom 04. April 1969 eine Karte Manhattans mit Kawaras eingezeichneter Route aus. Kawara zählt somit neben anderen Künstlern, die wie z. B. Robert Smithson ähnlich arbeiteten, zu den Begründern der ‘künstlerischen Kartografie’ bzw. des ‘Atlas-Mapping’.

Andrew DeGraff, ein freiberuflicher US-amerikanischer Illustrator und Künstler, der 2001 seinen Studienabschluss am Pratt-Institut für Kommunikation und Design in Maine erlangte und heute selbst am Maine-Kunst-College lehrt, transferierte die Atlas-Mapping-Methode im Rahmen seiner 2017 in den USA erschienenen Publikation in den Bereich des Bewegtbild-Mediums ‘Kinofilm’. Dazu zeichnete er die Lauf- bzw. Fahrstrecken der HauptakteurInnen von Spielfilmen in maßstäblich verkleinerte und verdichtete grafische Darstellungen der Schauplätze der betreffenden Produktion in Form von farblich differenzierten Linien ein. Die gezeichneten Gebäude und Landschaften werden vom Illustrator überwiegend naturalistisch und detailreich erfasst, jedoch z. T. mit großflächigen Farbfeldern unterlegt: Exemplarisch sei hier das Szenario zu King Kong erwähnt (vgl. 15), welches die Heimat-Insel des ‘Titel-Helden’ rechts unten im Bild in überwiegend rötlichen Farbtönen, den Ozean in undifferenziertem Hellblau und das Stadtbild New Yorks am oberen Bildrand in Grün zeigt.

DeGraff zitiert dabei im Falle New Yorks die weitgehend bekannte Architektur oder – wie beim Film Der Herr der Ringe (vgl. 138/139) – das von Peter Jacksons Team entwickelte Set-Design. Diese sicherlich ebenso charmante wie faszinierende Idee, eine Narration bewegter Bilder auf unbewegte Maps zu übertragen, ist aber wohl nur für ambitionierte Cineasten, die den entsprechenden Film in- und auswendig kennen, nachvollziehbar. Im Vorwort erläutert DeDraff den akribischen und aufwändigen Herstellungsvorgang, der ihm abverlangte, eine bestimmte Kino-Produktion bis zu 50 mal zu studieren (vgl. 9). Insgesamt handelt es sich um 35 Spielfilme, die dergestalt auf 157 Seiten – teilweise Doppelseiten – in guter farblicher Druckqualität visuell übersetzt werden. De facto führt die Natur der Maps (Format, Kolorierung) aber zu einer veränderten Wahrnehmung der filmischen Handlung, weil die darin vorkommenden Dimensionen verändert, die Orte/Handlungsschauplätze ‘gestaucht’ werden: Gleichwohl mag es für die Fans bestimmter Filme, die im Buch vorkommen, sehr reizvoll sein, die solcherart grafisch aufbereitete Handlung zu rekonstruieren.

Irreführend ist allerdings in der deutschen Fassung der Untertitel des Buches “Ein Atlas der 35 großartigsten Filme aller Zeiten”, denn für den Superlativ ‘großartigsten’ bleibt man objektive Maßstäbe schuldig. Weder wurden ausschließlich die umsatzstärksten Produktionen (vgl. https://insidekino.com/TOPoderFLOP/Global.htm) berücksichtigt – es fehlen z. B. Filme der Harry Potter-Serie bzw. Avatar – noch schienen künstlerische Qualitätskriterien bei der Auswahl eine Rolle gespielt zu haben, denn Werke der Regisseure Ingmar Bergman, Akira Kurosawa oder etwa Andrei Tarkowski sucht man vergeblich. Ehrlicher und angemessener erscheint dem gegenüber der Original-Untertitel, welcher – übersetzt – 35 großartige Filme ankündigt.

Ob diese Sinn-Veränderung auf das Konto des Übersetzers Berni Mayer geht, sei einmal dahin gestellt. Das Buch enthält jedenfalls Transformationen einer subjektiven Auswahl von Filmen, die – wie es im Vorwort steht – für den Filmliebhaber DeGraff “kollektive Kindheitserinnerungen” (9) repräsentieren und ferner zwei Hauptinteressen seiner Kindheit – Landkarten und Filme – miteinander verbinden (vgl. ebd.). Insofern ist auch die Schwerpunktsetzung auf Blockbuster der 1970er und 1980er Jahre nachvollziehbar.

Die klug kommentierenden kulturphilosophischen Essays A. D. Jamesons, welcher an der Universität von Illinois in Chicago ‘Kreatives Schreiben’ und Filmwissenschaft unterrichtet, begleiten die von DeGraff generierten Maps und enthalten u. a. ergänzende Hintergrundinformationen zu den Filmen. Sie sind zwar mitunter aus deutlich US-amerikanischer Perspektive verfasst, erweisen sich aber als informative und lehrreiche Ergänzungen. Auf jeden Fall könnte sich Cinemaps auch im deutschsprachigen Raum als “popkulturelles Familienalbum” erweisen, weil es einen Wiedererkennungswert für viele FilmfreundInnen besitzt und zugleich die Entdecker-Lust im Hinblick auf bekannt geglaubte Leinwand-Welten weckt.

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Über das BuchAndrew DeGraff, A.D. Jameson: Cinemaps. Ein Altas der 35 großartigsten Filme aller Zeiten. München [Wilhelm Heyne Verlag] 2018, 160 Seiten, 30,- Euro.Empfohlene ZitierweiseAndrew DeGraff, A. D. Jameson: Cinemaps. von Stiller, Jürgen in rezensionen:kommunikation:medien, 31. Januar 2020, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22093
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