Rezensiert von Hans-Dieter Kübler
Um Medienwandel, wie rasant und einschneidend er derzeit auch sei, angemessen analysieren zu können, bedarf es langfristiger Beobachtung und geeigneter Methoden. Leider sind solche Studien trotz aller publizierten Aufmerksamkeit hierzulande bislang noch rar. Da ist eine über acht Jahre laufende qualitative Panelstudie hochwillkommen. Mit einem Sample von 25 Paaren kann zwar nur exemplarisch, dafür aber sehr differenziert argumentiert werden. Die Studie hat einen breit fundierten und methodisch sorgfältig erarbeiteten ethnografischen Ansatz, der mehrere Analyseschritte über die zentralen Leitfadeninterviews hinaus umfasst. Hier wird zweifellos theoretisches und methodologisches Neuland betreten, in den Traditionen von Cultural Studies, Grounded Theorie und qualitativer Rezeptionsforschung.Ein Novum ist ferner der Paar-Ansatz: die gut sozial, nach Alter und Bildung streuende Auswahl von Paaren als Panel. So können alltagsnah und konkret die häusliche Situation, die Wohnumgebung, das Medienrepertoire und seine Situierung im Haushalt sowie die Alltagsbewältigung, die Kommunikationskulturen und Beziehungskonstellationen, sich verändernde Gewohnheiten und Bedürfnisse der Paare mit einer Fülle von Daten und Interpretationen erforscht werden. Die im Haushalt lebenden Kinder wurden ebenfalls einbezogen, wenn auch der Fokus auf den elterlichen Paaren lag. In der letzten Erhebung 2016 wurde das Panel um ein Kontrast-Sample von 16 Paaren mit einer dezidiert “online-orientierten Mediennutzung mit digitalen Technologien” (57) ergänzt, um noch präziser die “Antriebskräfte häuslicher Mediatisierung” (56) gezielt in den Blick zu nehmen.
Von 2008 bis 2017 hat das Team um die Münsteraner Kommunikationswissenschaftlerin J. Röser das weitgehend stabil gehaltene Panel begleitet und in vier multimethodischen Erhebungen erfasst, ergänzt 2016 um besagtes kontrastierendes Sample. Entdeckt und ergründet werden sollten damit die in dieser Zeit erfolgte Integration und Verhäuslichung des Internets (ein im Deutschen weniger missverständlicher Begriff als der in der internationalen Forschung gebräuchliche der “Domestizierung”), die weitere Durchdringung des Zuhauses mit Medien (“Mediatisierung”) sowie der damit zusammenhängende Wandel des häuslichen Alltags und der häuslichen Kommunikationskulturen. Als Ausgangspunkt dafür wurden die konkret zugängliche Medienaneignung und das Medienhandeln der Rezipient*innen gewählt.
Für jedes Teilprojekt wurde ein thematischer Schwerpunkt ausgesucht, um die Materialfülle zu fokussieren und typische Profile herauszuarbeiten: Beim ersten Projekt (2008-2010) stand – auch im Rückblick bis in die 1990er Jahre – die Anschaffung von Onlinemedien im Zentrum, beim zweiten (2010-2012) das häusliche Arrangement sowohl im räumlichen Setting als auch hinsichtlich der Umgangsformen und Kommunikationsaktivitäten. Dabei ließen sich aufschlussreiche “Suchbewegungen” der Paare mit der wachsenden “innerhäuslichen Mobilisierung des Internets” und der zunehmenden “flexiblen Gestaltung” seiner Nutzung bis hin zu einer “Neueinschreibung des Internets in den häuslichen Alltag” (5) rekonstruieren.
Die dritte Teilstudie (2012-2014) widmete sich vor allem den allmählich habitualisierten Internetanwendungen in Bezug auf Alltagsorganisation, Service und Konsum. Entgegen vielen öffentlichen Debatten um Medienkonkurrenz ließen sich eher Annäherungs- und Koexistenzprozesse zwischen dem Gebrauch alter und neuer Medien beobachten, die nicht zuletzt den gemeinsamen Fernsehabend bestehen ließen. Das letzte Teilprojekt (2014-2017) öffnete den Gesamtblick auf die Paare und befasste sich intensiv mit ihrer Lebenswelt, mit einschneidenden Veränderungen wie etwa der Geburt eines Kindes oder der Trennung, mit Geschlechterkonstellationen, aber auch mit der häuslichen Berufsarbeit und der vielfach beklagten Verschmelzung von Beruflichem und Privatem. Die zudem durchgeführte Kontraststudie der “Online-Avantgarde” kann allerdings nur in wenigen Haushalten ein enges “Zusammenspiel aus hoher Medienaffinität” und -omnipräsenz im Alltag, “umfangsreicher online-bezogener Medienkompetenzen und einer kritischen Sicht auf Mainstream-Medien” eruieren. Doch diese Konstellation ist nur in einer akademisch geprägten Minderheit zu finden und repräsentiert noch lange nicht das “mediatisierte Zuhause der Mehrheit” (9).
Erwartungsgemäß lassen sich die vielfältigen und dichten Analysen nicht in pauschale, simple Ergebnisse zusammenführen, was der Projektbericht zum Glück auch nicht versucht. Stattdessen liefert er gleich eingangs eine kompakte Übersicht der Teilstudien und dann in sieben, thematisch ausgerichteten Kapiteln differenzierte Befunde zu den einzelnen, jeweils gewählten Analysedimensionen. Als übergreifendes Momentum schält sich eine komplexe Dialektik von “Dynamik und Beharrung in der Mediatisierung” (9) heraus, eingebettet und bewirkt von zahlreichen, relevanten Faktoren der Lebensbewältigung, Beziehungskonstellationen, Bedürfnislagen und sozialen Notwendigkeiten, in die Medienaneignung und -nutzung zwar mitwirkend, aber nicht bestimmend eingelagert ist.
Wiederum entgegen manch anderen einschlägigen Thesen stellt sich Medienwandel eben nicht als zwangsläufig linearer Prozess heraus, sondern als vielfache, auch kontingent widersprüchliche, diskontinuierliche Transformationen, in denen die Individuen mannigfaltige Entscheidungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten haben. An etlichen Beispielen veranschaulichen die Autor*innen diese, auch anhand exemplarischer Falldarstellungen. So finden sich in der ersten Phase der Anschaffung des Internets ganz unterschiedliche Motive und Handhabungen, die auch sozial und geschlechtertypisch variieren. In der zweiten Phase werden die Gerätschaften je nach Nutzung in diversen Räumen platziert, je nach Prestige beachtet und mit der Mobilisierung durch das Smartphones wieder anders gebraucht. In der dritte Phase wird das Internet zum alltäglichen Gebrauchswerkzeug, und zwar in drei Typen von Haushalten wieder verschieden: als randständiges, als gleichwertiges oder als dominantes Medium. Aber in den meisten Haushalten bleibt das schon oft verpönte lineare Fernsehen zumal am Abend bei vielen zentral.
Erweitert man den analytischen Blick über den Mediengebrauch hinaus auf die gesamte Lebensbewältigung, wie es in der vierten Phase geschieht, verschieben sich die Gewichte und Koordinaten. Dann werden die existentiellen Dinge vorrangig, ob als Retardierungen oder als Treiber der Mediatisierung. Es ist das Verdienst dieser Studie, ein solch genauen, empirisch gesättigten, exemplarischen Blick auf den Medienwandel geliefert zu haben, der möglichst durch viele weitere analytische Facetten ergänzt werden müsste und auch könnte.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Prof. Dr. Jutta Röser an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
- Webpräsenz von Dr. Kathrin Friederike Müller an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
- Webpräsenz von Stephan Niemand an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
- Webpräsenz von Ulrike Roth an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
- Webpräsenz von Prof. Dr. Hans-Dieter Kübler an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg