Rezensiert von Stefan Schroeder
Wenn, laut Roland Barthes, alles zum Mythos werden kann, so mag auch jedem Kunstwerk eine mythische Qualität anhaften. So amorph ist denn auch die Ausgangsbasis des vorliegenden Sammelbandes, was hier keineswegs als Kritik aufgefasst werde, ist es doch die logische Konsequenz eines zeitgenössischen, erweiterten Mythenbegriffes, der alles im kollektiven Gedächtnis Bedeutungstragende in sich vereint.Über “symbolische und kulturelle Funktionen“ von Mythen, die sich in der filmisch-bildhaften Welt des “kulturellen Imaginären“ (2) verselbstständigen, nähern sich die in Marburg (Vincent Fröhlich) und Gießen (Annette Simonis) ansässigen Herausgeber dem Thema in ihrem mythen- wie filmtheoretisch gleichermaßen fundierten Vorwort, denn Film als Transporteur des kollektiven Unbewussten (5) galt schon bald nach seiner Entstehung als das ideale Adaptionsmedium der sich stets selbst erneuernden Mythenbildung.
Breit aufgestellt dienen den AutorInnen der stets fundiert theoretisch verorteten zehn Einzelbeiträge verschiedene Theoriemodelle als Fundament, steht Blumenberg neben Levi-Strauss oder Kracauer neben Vertov und vielen anderen. Dass die AutorInnen ihren heterogen ausgewählten Primärquellen dabei sehr unterschiedliche Substanz abgewinnen, mag indes nicht nur der Natur des Sammelband-Formats geschuldet sein, sondern vor allem dem Fehlen einer weiteren Spezifikation, das durch die Problematik der Allgemeingültigkeit unterschwellig durchschimmert.
Den Anfang macht Herausgeber Vincent Fröhlich, der im “totalen Film des Michael Mann“ (21) die Wechselbeziehung zwischen Fiktion und Dokumentation erforscht und damit an eine bis in die Urformen des Mediums zurückverfolgbare filmische Eigenart anknüpft, die niemals “pure Realität“ (22) abbildet, sondern Wirklichkeit stets durch Nachahmung erzeugt. Seinen Erkenntnissen aus der Analyse dreier Mann-Filme wäre indes mehr Tiefenpotential zu wünschen, denn so genau er auch das Werk des Hollywood-Autorenfilmers unter die Lupe nimmt, kommt man doch nicht umhin, in seinem Beitrag mehr Gemeinplätze als nötig zu erkennen.
Matthias Bauer erforscht in seinem allerdings ausufernd langen und mit vielen historisch-faktischen Details angereicherten Beitrag das “narrative Wechselspiel von Legendenbildung und Mythenkritik“ in David Leans Kultfilm Lawrence of Arabia (1962) und seiner Titelfigur, deren ambivalente Persönlichkeit er geradezu seziert: Seine Demaskierung des Mythos T. E. Lawrence als einer bis zum Ich-Verlust zerfallenen psychischen Ausnahmeerscheinung (78) zwischen Negativität und Hybris, Selbstkonstruktion und Scheitern, entdeckt die Verbindung der Identitätsthematik mit Mentalitäts- und Zivilisationskritik in einer höchst reflektierten Filmanalyse, die die “Suggestivität“ des Films als Stärke gegenüber seiner Plausibilität (124) anerkennen muss.
Laura Zinn analysiert dramaturgische Ähnlichkeiten in gleich acht Biopics über populäre Musikerbiographien von den Doors über Hildegard Knef bis Bushido, deren mythisches Potential sie in einer ikonischen Überformung der mit religiöser Symbolik aufgeladenen (vgl. 128) Lichtgestalten ausmacht. Was anfangs mehr bodenständig erscheint denn originell, treibt Zinn jedoch bis zur spannenden Gegenüberstellung des Fiktionalen und des Faktischen in den Biopics, die den Musiker zur promethisch angelegten Schöpferfigur (vgl. 141) stilisieren, um in einer nahezu immergleichen Erzählstruktur den Weg von extremer Idolisierung bis zum Sturz in die Unterwelt nachzuzeichnen; womit Zinn gerade im Kontext des Mythischen äußerst faszinierende Wirkungs- und Deutungspotentiale erschließt.
Gleich zweimal präsentiert der Band den mythischen Vatermörder Ödipus, den sowohl Gero Guttzeit als auch Maren Scheurer im populären Kino ausmachen: Dabei hat Guttzeit, dessen ursprünglich englisch abgefasster Text hier nicht immer glücklich übersetzt scheint, über Bekanntes hinaus wenig mitzuteilen, denn seine auf Ödipus als den ersten detektivischen Ermittler der Literatur rekurrierende Lesart des Scorsese-Thrillers Shutter Island (2010), bei der es um das verlorene und gewonnene Wissen der eigenen Identität geht (180), das Überwinden von Ängsten durch Wahrheit, letztlich um die Bewusstwerdung und die Reflexion der eigenen Selbsterkenntnis, fasst doch vor allem zusammen, was man über Ödipus und die analytische Erzählung schon wusste; was daraus zu folgern wäre, bleibt der Autor schuldig.
Im zweiten auf Ödipus gestützten Beitrag macht Maren Scheuer auf Woody Allens Psychoanalyse-Komödie Another Woman (1988) aufmerksam, die den Ödipus-Mythos auf der psychoanalytischen Folie gewissermaßen ungenannt miterzählt, nicht zuletzt, da Psychoanalyse, wie die Autorin richtig schreibt, vom Ödipuskomplex losgelöst gar nicht mehr zu denken ist. Scheuers Punkt ist die Einheit von Analytiker und Analysand, die Selbst- durch Fremdanalyse (vgl. 286) basierend auf der Überführung des Mörders Ödipus durch sich selbst, die sie im Zuge einer äußerst genauen und stringent überzeugenden Filmanalyse in ihre Einzelteile zerlegt: In Scheuers schlüssiger Argumentation scheint gerade Allens komödiantischer Zugang zum psychoanalytisch rezipierten Mythos den zeitgenössischen Blick auf den Mythos zu verändern, eine nicht unproblematische Einladung zur ironischen Betrachtung und Reflexion.
Die Herausgeberin Annette Simonis taucht detail- und verweisreich in den Anspielungskosmos von Lars von Triers Melancholia (2011) ein und erkennt in der Fülle intermedialer Referenzen nicht nur den Mythos “als entscheidendes strukturelles Element“ (193), sondern rückt vor allem auch dem Paradoxon des zwischen Verweis und Verweigerung oszillierenden Filmkonzepts überzeugend zu Leibe, welches sie als das eigentlich strukturell wirkmächtige Element des Films reflektiert herausarbeitet.
Blumenberg zum Trotz geht Marijana Erstic in ihrem Beitrag vom christlichen Mythos aus und erweitert das mediale Spektrum um einen umfangreichen Ausflug in die Malerei, deren Verknüpfungen mit Jarmans Filmbiographie Caravaggio (1986) sie ebenso überzeugend benennt wie die Verbindung zum preisgekrönten Musikvideoclip Losing my Religion (1991) des Regisseurs Tarsem Singh; ihrem textlich übersichtlichen, doch bilderreich unterfütterten und unbedingt reizvollen Beitrag wäre allerdings vorzuhalten, dass ihre Conclusio nur ein weiteres Mal, wenngleich diesmal christlich verortet, die “Allgegenwärtigkeit des Mythos“ und die “fortwährende Arbeit am Mythos“ betont.
Einen der rätselhaftesten, vordergründig kaum Sinn konstituierenden Mythen-Filme hat sich Matthias Däumer in seiner eindrucksvollen Interpretation von N.W. Refns Epos Valhalla Rising (2009) vorgenommen: Für ihn vermag es die “ostentative Artifizialität“ (260) des Films, hinter der sinnlichen Hingabe den rationalen Geist des Rezipienten wachzuhalten; eine freilich seit Brecht gängige Technik, möchte man einwenden, die allerdings bei Däumer als zentrale Idee hinter dem vermeintlichen Widerspruch des fortwährend inszenierten Mythenbruchs innerhalb der vordergründiger Mythisierung herausgearbeitet wird.
In seiner Substanz nicht ganz so dringlich erscheint der gleichwohl solide und engagierte Beitrag Fabian Steins über einen Film, dem er offensichtlich große Begeisterung entgegenbringt, wie die sehr kleinteilige Analyse von Steve MacQueens Rennsportfilm Le Mans von 1970 erkennen lässt, in der Stein den Mythos der Geschwindigkeit mit Bezug auf Virilios Theorie der Dromologie beschwört und dabei den Mythosbegriff noch allgemeiner auffasst als die vorangegangenen Beiträge. Die daran eigentlich interessante Frage nach der Gegenüberstellung von Mythifizierung und Entmythisierung (vgl. 325) überlässt er im letzten Satz des Beitrags leider einer späteren Auseinandersetzung.
Und wenn abschließend Jason Archbold im einzigen englischsprachigen Beitrag des Bandes Rene Girards Aufsatz “Die Pest in Literatur und Mythos” als Interpretationsfolie über die Zombies aus Danny Boyles Endzeit-Horror 28 Day Later (2002) legt, so erscheint der mythologische Bogen endgültig überspannt.
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Über das BuchVincent Fröhlich, Annette Simonis: Mythos und Film. Mediale Adaption und Wechselwirkung. Reihe: Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 345. Heidelberg [Universitätsverlag Winter] 2016, 343 Seiten, 58,- Euro.Empfohlene ZitierweiseVincent Fröhlich, Annette Simonis (Hrsg.): Mythos und Film. von Schroeder, Stefan in rezensionen:kommunikation:medien, 9. Oktober 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20669