Im Interview mit Christa Romberg
Nach seinen Publikationen Was ist Kitsch? (2000) und Was ist gute Literatur? (2004) hat Literaturwissenschaftler Hans-Dieter Gelfert nun eine Einführung unter dem Titel Was ist ein gutes Gedicht? vorgelegt. Anhand berühmter Beispiele zwischen Goethe, Rilke, Hesse und Shakespeare erklärt der 80-Jährige, was die Qualität eines Gedichtes ausmacht und worin das Vergnügen an Versen liegt. Christa Romberg vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur an der TU Dortmund ist für das rkm-Journal die titelgebenden 33 Schritte des Buches gegangen und bezeichnet das Werk als eine Quintessenz seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen.r:k:m: Frau Romberg, es heißt immer: Der Weg ist das Ziel. Hans-Dieter Gelfert hat in seiner aktuellen Publikation für diesen Weg über die Qualität der Lyrik 33 Schritte festgelegt. Beschreiben Sie mal, welche Stationen den Leser auf dieser Wanderung erwarten.
Christa Romberg: Es sind 33 Kapitel, die sich zunächst mit den Grundfragen des Themas beschäftigen: Was ist überhaupt ein Gedicht und was macht es in Bezug auf die Form, den Inhalt und das angemessene „Sprachkleid“ aus? Danach lenkt der Autor den Blick auf die literarischen Epochen und zählt sauber und argumentativ schlüssig auf, warum die von ihm aufgeführten Beispiele gute Gedichte sind, darunter Goethes „Harzreise im Winter“, „Der römische Brunnen“ von Conrad Ferdinand Meyer und Celans „Todesfuge“. Nachvollziehbar ist, dass Gelfert die Autoren stark im Spiegel ihrer Zeit und unter dem Einfluss ihrer Kritik sieht. Allerdings sind seine Ausführungen hier etwas breit, es gibt Kapitel, die er nicht so ausführlich hätte schreiben müssen. Zum Schluss versucht er, seine Analysen auf eine allgemeingültige Ebene zu bringen: Wie kann man die Qualität eines Gedichtes festlegen, was ist die ästhetische Wirkung und lässt sie sich formelhaft beschreiben?
r:k:m: Woran macht Gelfert denn fest, was ein gutes Gedicht ist?
Christa Romberg: Er bestimmt es zunächst aus dem Spannungsverhältnis von Gehalt und Gestalt. Wenn sowohl das Sujet als auch die sprachliche Form des Gedichtes stimmen und wenn es für den Leser nicht nur ein flüchtiges Vergnügen ist, sondern ihm für sein Seelenleben etwas gibt – eine Art geistige Medizin –, dann ist es nach Gelfert ein gutes Gedicht. Ob es dann auch noch ein großes Gedicht ist, also etwas völlig Neuartiges, noch nie Ausgesprochenes, lässt sich nur in wenigen Fällen explizit sagen. Außerdem geht es um Details wie Authentizität und Objektivierung, Metaphorik und die Rolle des Dichters. Gleichwohl schränkt er im Schlusskapitel die Allgemeingültigkeit ein, indem er sich der Subjektivität des Geschmacks widmet und aufarbeitet, wodurch Geschmack geprägt wird, zum Beispiel durch die Zeit und die Gesellschaft.
r:k:m: Sie haben selbst 40 Jahre lang an der Universität Seminare zu Lyrik und Rhetorik geleitet. Finden Sie Ihre Erfahrungen in den Ausführungen des Buches wieder?
Christa Romberg: Ich kann Gelferts Anforderungen an Qualität durchaus teilen, glaube aber, dass die heute 20-Jährigen das nicht mehr könnten. Der Autor sieht das ähnlich und hat darauf auch eine Antwort. Er sagt, diese Generation kenne einfach zu wenig von der traditionellen Lyrik. Gelfert bedauert sehr, dass es heutzutage keinen verbindlichen Kanon mehr gebe, der in den Schulen präsentiert werde und an dem man sich orientieren könne. Dieses Problem hat die Literaturdidaktik seit den 1980er Jahren häufig diskutiert. In der klassischen Musik dagegen gibt es nach wie vor einen Kanon, der in Konzerten immer wieder hörbar gemacht wird. Das ist der Dichtkunst so nicht mehr zuzuschreiben. Gelfert zeigt daher auch Skepsis gegenüber gegenwärtigen Formen wie den Poetry Slams und Pop-Lyrics. Er hat generell Probleme mit der modernen Lyrik, weil sie einem Phantom hinterhereifere: Es sei ja alles schon einmal gesagt worden. Daher fehlen der heutigen Dichtung die Themen, um originell zu sein.
r:k:m: Welche Zielgruppe spricht die Publikation an?
Christa Romberg: Das Buch ist durchaus für Studierende geeignet, die sich allerdings die Mühe geben wollen, sich der traditionellen Lyrik anzunehmen oder sich von ihr einnehmen zu lassen. Wer Gedichte schon in der Schulzeit ätzend fand, wird sich mit diesem Buch nicht anfreunden können, da es nicht populärwissenschaftlich angelegt ist. Das wäre der Fall, wenn der Autor mit Song-Lyrics etwa von den Beatles angefangen hätte, um dann Vergleiche mit klassischer Lyrik zu ziehen. Gelfert fängt hingegen mit frühen Formen an – vor allem mit Shakespeare, der für ihn sowieso der Gott ist. Das liegt aber auch daran, dass Gelfert Professor für englische Literatur war und sich mit William Shakespeare auch in anderen Werken befasst hat. Unter dieser Prämisse ist es eine schöne Lektüre, zumal sie ohne Fußnoten auskommt.
r:k:m: Klingt nach einer Empfehlung mit nur wenigen Einschränkungen.
Christa Romberg: Ich habe das Buch mit Vergnügen rezipiert, eine Sache fehlt mir indessen: Gelfert schreibt immer vom ‚Leser‘ der Gedichte. Er setzt einen Leser voraus, der in der Lage ist, die Gedichte bei der Lektüre in seinem inneren Ohr zum Klingen zu bringen. Obwohl in seinen Ausführungen häufig von Musik die Rede ist, macht Gelfert nicht ausreichend deutlich, dass Gedichte eigentlich zum Sprechen bzw. zum Gesprochen- und Gehörtwerden gedacht sind und nicht bloß ein gedrucktes Werk. Jemand, der mit der Rezitation von Lyrik nicht vertraut ist, wird die Feinheiten, von denen dieses Buch lebt, nicht herausfinden.
Das Gespräch führte Martin Gehr (r:k:m).
Links:
Über das BuchHans-Dieter Gelfert: Was ist ein gutes Gedicht? Eine Einführung in 33 Schritten. München [C.H. Beck] 2016, 224 Seiten, 14,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseHans-Dieter Gelfert: Was ist ein gutes Gedicht?. von Romberg, Christa in rezensionen:kommunikation:medien, 20. Juni 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20298