Tobias Heinrich: Leben lesen. Zur Theorie der Biographie um 1800

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Im Interview mit Jana Piper

Einzelrezension
Memoiren. Intime Einblicke in das Leben fremder Menschen haben schon immer fasziniert. Was trieb diese Menschen an? Was machte sie zu dem, was sie sind, was sie wurden, was sie waren? Memoiren helfen zudem stets dabei, die Zeit zu besiegen, indem sie Vergangenes festhalten und der Erinnerung einen Ort geben. Für die literarische Gattung der Biografie war das 18. Jahrhundert ein wesentlicher Markstein. In seiner Studie Leben lesen hat sich der Germanist Tobias Heinrich mit der Theorie der Biographie um 1800 befasst. Die Literaturwissenschaftlerin Jana Piper schreibt derzeit eine Dissertation über Goethe und Schiller in der filmischen Erinnerungskultur und steckt damit selbst in der medialen Biografieforschung. Für das rkm-Journal hat sie sich daher der Publikation aus dem Böhlau Verlag angenommen und konstatiert, die Arbeit sei grundlegend „kohärent aufgebaut und theoretisch fundiert“. Was sie darüber hinaus über die Erinnerungskultur der Aufklärung erfahren hat und warum dies auch für das medial geprägte 21. Jahrhundert nützlich sein kann, berichtet sie im Interview.

r:k:m: Frau Piper, zurzeit scheint es in der Literatur einen Biografie-Boom zu geben. Jeder, der halbwegs prominent ist oder war, bringt seine Autobiografie heraus bzw. lässt sie über sich schreiben. Woran kann das liegen?

Jana Piper: Biografie-Konjunkturen hat schon Siegfried Kracauer (1930) als Eskapismusphänomen beschrieben, das besonders bei gesellschaftlichen Umbrüchen bzw. Krisensituationen in Erscheinung tritt. Heutzutage vermischt sich diese politische Dimension auch mit einem Starkult. Das heißt: Die Geschichten der großen Männer des 18. bis 20. Jahrhunderts werden ersetzt durch Storys über Popstar-Vorbilder, die allerdings auch pluralistischere Identifikationsangebote ermöglichen.

r:k:m: Ausgerechnet Biografien sollen eskapistischen Charakter haben? Für Romane scheint diese These ja nachvollziehbar, aber wenn jemand sein Leben beschreibt, ist das doch das Gegenteil von Realitätsflucht.

Jana Piper: Biografien haben noch viel offensichtlicher als Romane immer eine didaktisch-politische Funktion. Sie reflektieren eine gegenwärtige Krise und erschaffen durch die Narrative, etwa der Heldenreise, eine stabilisierende Funktion. Dabei gilt der Gedanke des Eskapismus sowohl für den Leser als auch für den Autor.

r:k:m: Nun befasst sich das Buch „Leben lesen“, das Sie für das rkm-Journal rezipiert haben, nicht mit dem aktuellen Biografie-Trend, sondern mit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Warum hat der Germanist Tobias Heinrich von der Universität Oxford diesen Zeitraum für seine Studie gewählt?

Jana Piper: Das 18. Jahrhundert wurde in der Biografie-Forschung immer stiefmütterlich behandelt: Helmut Scheuer stellte 1979 die These auf, es habe im 18. Jahrhundert keine tatsächliche Biografik gegeben. Es standen also weniger die großen Monografien, sondern biografietheoretische Diskurse im Vordergrund, die auch Tobias Heinrich behandelt. Insofern schließt er mit seiner Publikation ein Desiderat in der Biografie-Forschung.

r:k:m: Das heißt, in dem Buch werden keine Biografien aus der genannten Zeit als Beispiele analysiert, sondern Metatexte? Warum ignoriert Heinrich die eigentlichen Primärtexte und welchen Werken widmet er sich stattdessen?

Jana Piper: Das 18. Jahrhundert war geprägt von Kleinformen der Biografie, zum Beispiel Porträts oder Nachrufe, die von Heinrich auch peripher betrachtet werden. Große Monografien erlangten erst wieder im 19. Jahrhundert Konjunktur. Daher liegt es nahe, sich mit den Metatexten zu beschäftigen. An biografietheoretischen Texten werden unter anderem die Schriften „Über die Biographie“ von Johann Georg Wiggers (1777) und „Theorie der Lebens-Beschreibung“ von Daniel Jenisch (1802) herangezogen. Das Untersuchungskorpus gründet sich vornehmlich auf der Reflektion von Biografie und Geschichtsschreibung. Das hat zur Folge, dass die Analysen stark gedächtnistheoretisch geprägt sind.

r:k:m: Das klingt, als ob Sie diesen Fokus der „gedächtnistheoretischen Prägung“ kritisch sehen.

Jana Piper: Heinrich konzentriert sich auf Erinnerungsstrategien wie die Sepulkralkultur, die sich mit Sterben und Tod befasst, und berücksichtigt wesentliche gedächtnistheoretische Schriften. Dabei arbeitet er die Zweckmäßigkeit von Biografien sehr gut heraus und reflektiert, wie sich die Formen kollektiver Erinnerung weiterentwickelt haben. Marginalisiert wird dadurch allerdings die Anlehnung an andere literarische Gattungen wie den Roman und damit auch die narrative Dimension, also die Technik des Erzählens. Hier hätte man isotopische Beziehungen veranschaulichen können, um zu zeigen, inwiefern die Biografien thematisch zusammenhängen.

r:k:m: Worin besteht Ihrer Auffassung nach die Absicht der Studie? Und überzeugt der Autor damit?

Jana Piper: Leitidee ist, das von der Biografie-Forschung vernachlässigte 18. Jahrhundert als wesentlichen Zeitraum für die Gattung der Biografie herauszustellen. Im Rekurs auf Erinnerungspraktiken und Erinnerungsmedien gehen diese Erkenntnisse über die Historie hinaus und schaffen Anknüpfungspunkte für Subjektdarstellungen des 21. Jahrhunderts – auch in den Massenmedien. Das ist gelungen.

r:k:m: Aber Heinrich behauptet nicht, die Autoren der genannten Zeit seien die ersten gewesen, die das Genre der Biografie salonfähig gemacht haben, oder? Lebensaufzeichnungen gab es doch schon in früheren Jahrhunderten, sonst wären zahlreiche Biografien historischer Persönlichkeiten gar nicht überliefert – ganz abgesehen von den ,Biografien‘, die die Bibel aufweist.

Jana Piper: Lebensaufzeichnungen gab es natürlich schon immer. Im 18. Jahrhundert unterliegt die Biografie – im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Kontexten – aber einer Verbürgerlichung des biografischen Subjektes. Insofern stellt sie in der Gattungsgeschichte schon einen Einschnitt dar.

r:k:m: „Verbürgerlichung“ bedeutet, es wurden nicht mehr nur Könige, Päpste und Märtyrer bedacht, sondern auch das gemeine Volk?

Jana Piper: Ja, das bürgerliche Volk und die bürgerliche Geschlechterordnung. Ein Beispiel aus dem Buch ist ein Nekrolog von Johann Gottfried Herder: „Am Sarge der Jungfer Maria Margaretha Kanter“ (1764). Darin heißt es: „Sei in mir Stille, / Wie die Natur einst steht, / Wenn sie, Welten zur Sonn‘ zu hauchen, erst Kräfte / Athmet; Stille, wie mein Gedanke / Einst aufflammet und stirbt, der Wünsche letzter / Einst auffluthet und sinkt / Hin ins Nichts!“ Das gilt am Ende für jeden – ob er nun Krämer oder Kaiser war.

Das Gespräch führte Martin Gehr (r:k:m).

Literatur:

  • Herder, Johann Gottfried: Gedichte. Hrsg. von Karl-Maria Guth. Berlin [Sammlung Hofenberg] 2014.
  • Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart [J.B. Metzler] 2009.
  • Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 1977.
  • Scheuer, Helmut: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart [J.B. Metzler] 1979.

Links:

Über das BuchTobias Heinrich: Leben lesen. Zur Theorie der Biographie um 1800.Wien/Köln/Weimar [Böhlau] 2016, 199 Seiten, 35;- Euro.Empfohlene ZitierweiseTobias Heinrich: Leben lesen. Zur Theorie der Biographie um 1800. von Piper, Jana in rezensionen:kommunikation:medien, 6. Juni 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20194
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