Rezensiert von Evelyn Runge
Im Arm des Mannes liegt ein Kind, zusammengekrümmt, den linken Unterschenkel bandagiert, die linke Hand in das Hemd des Mannes geklammert. Um sie kreisen drei Soldaten und ein Zivilist – und eine zierliche Frau. Sie blickt durch ihre Kamera, justiert das Objektiv und geht auf den Mann und den Jungen zu.Die Frau ist Lynsey Addario, aufgenommen von Chang Lee in Kirkuk im April 2003 (S. 154). Addario, geboren 1973, ist eine der wenigen Frauen, die sich seit vielen Jahren als Fotojournalistin in Krisen- und Kriegsgebieten behauptet. In ihrer Autobiografie Jeder Moment ist Ewigkeit. Als Fotojournalistin in den Krisengebieten der Welt (2016) erzählt sie in 14 Kapiteln ihren Werdegang. Sie fokussiert dabei auch, was es bedeutet, als Frau im internationalen Fotojournalismus zu arbeiten, beruflich wie privat – weshalb der Untertitel des englischen Originals passender ist als der deutsche: A Photographer’s Life of Love and War.
Illustriert mit eindrücklichen Farbfotos, ist Addarios Autobiografie trotz der subjektiven Haltung auch für das wissenschaftliche Publikum interessant: Die Lektüre verdeutlicht Forschungslücken, etwa die Produktionsbedingungen von Fotojournalisten in Krisengebieten, und die Ambivalenz, der weibliche Kriegsfotografen permanent ausgesetzt sind. Addario erhält Zugang zu Orten und Personen, die Männer nicht erhalten, etwa zu Frauenkrankenhäusern in Kabul (S. 82), Frauenmedressen (Koranschulen) in Pakistan (S. 102f.) oder Vergewaltigungsopfern im Kongo (S. 198ff.). Konsequenterweise hat sie sich in ihrer Arbeit auf Frauenthemen spezialisiert, denn oft sind Frauen die Hauptleidtragenden von Kriegen. Sie erhielt Stipendien, um „geschlechtsspezifisch[e] Gewalt und Vergewaltigung als Kriegstaktik“ (S. 201) im Kongo zu dokumentieren, und wurde 2009 für ihre Arbeit mit dem MacArthur-Fellowship ausgezeichnet.
Addario selbst ist während ihrer Arbeit sexueller Belästigung ausgesetzt, beispielsweise in Menschenmassen, die vor allem aus Männern bestehen, und während sie entführt wurde. Sie beschreibt, wie sie ihre Kamera als Schlagwaffe gegen Grabscher einsetzt; aber es gibt auch Situationen, in denen Addario beschützt wird: Als sie – im siebten Monat schwanger – von einer Menschenmenge in Gaza zerquetscht zu werden droht, schreit sie „Baby!“ und die Männer rings um sie herum verwandeln sich im Wortsinn zu ihren Leib-Wächtern (S. 334f.).
Die Netzwerke der global agierenden Kriegsjournalisten sind eine große Hilfe in Krisengebieten – zugleich aber sind diese Kollegen harte Konkurrenz um die Titelseiten der Nachrichtenmagazine (S. 102). Unverzichtbar sind die Stringer oder Fixer vor Ort – Einheimische, die als Fahrer, Dolmetscher und Organisatoren eng mit den Journalisten zusammenarbeiten. Manche werden jahrelange Begleiter von Addario und ihren Kollegen (S. 260). Sie zollt ihnen Respekt und identifiziert sie namentlich – was Zeitungen und Zeitschriften in ihrer Berichterstattung oft unterlassen (vgl. Bishara 2006). Das ist durchaus berechtigt, um diese Mitarbeiter vor Ort zu schützen; die Nennung ihrer Namen aber würdigt ihre Arbeit – ohne die Artikel und Fotografien nicht entstehen könnten.
Addarios Buch ist auch deshalb lesenswert, da sie kaum die heroischen Vorstellungen von der Tätigkeit einer Kriegsfotografin bedient. Sie schreibt, wie sehr ihre Arbeit seelisch und körperlich schmerzt (u.a. S. 247, 249). Studien belegen, dass Nachrichten- und Kriegsfotografen posttraumatische Belastungsstörungen erleiden können (Newman, Simpson, Handschuh 2003; International News Safety Institute 2003, S.ii, 208ff.; Runge 2014). Zugleich ist sie pragmatisch: „Als Fotografin in einem Kriegsgebiet hatte ich keine Waffe. (…) Und das Einzige, was mich im Irak, in Afghanistan, im Libanon, im Kongo und in Darfur am Leben erhalten hatte, war die innere Stimme, die mir sagte, wann meine persönliche Grenze der Furcht erreicht war“ (S. 246).
Mit einer Kollegin begleitete sie 2007 über einige Monate eine Einheit der US-Armee im Korengal-Tal in Afghanistan. Ihr Aufenthalt überschnitt sich mit jenem der Dokumentarfilmer Sebastian Junger und Tim Hetherington, die die Soldaten als eingebettete Journalisten begleiteten (S. 231ff.). Dieses Kapitel steht beispielhaft für viele gleichartige Erlebnisse: Addario erzählt nicht nur vom Sterben vor, sondern auch hinter der Kamera, von Kollegen, die sie zur globalen Familie der Kriegsberichterstatter zählt. Hetherington wurde 2011 in Libyen getötet, ebenso wie Chris Hondros (S. 317f.). Ihnen gedenkt Addario, sowie drei Frauen, die in Kriegsgebieten starben: die deutsche Fotojournalistin Anja Niedringhaus (2014, Afghanistan), die amerikanische Journalistin Marie Colvin (2012, Syrien) und die amerikanische Aktivistin Marla Ruzicka (2005, Irak). Nach Statistiken des Committee to Protect Journalists, das fortlaufend die Namen getöteter Reporter veröffentlicht, starben seit 1992 1236 Journalisten – 27 Prozent von ihnen waren Fotografen und Kameraleute (CPJ 2017).
Auch Addario entrinnt mehrfach knapp dem Tod – etwa durch Autobomben im Irak (S. 130ff.), einem schweren Autounfall in Pakistan (S. 264), und in Libyen, wo Addario und drei Kollegen 2011 entführt wurden (S. 11ff.). Ausgehend von dieser Entführung stellt Addario die Fragen, die ihre Autobiografie und somit den Leser begleiten: „Warum riskiert jemand sein Leben für ein Foto? Auch nach zehn Jahren als Kriegsberichterstatterin fällt es mir schwer, diese Frage zu beantworten. Die Wahrheit ist, dass kaum jemand für diese Arbeit geboren wird“ (S. 25).
Für den praktisch interessierten Leser kommen Informationen über die logistische Seite der Kriegsberichterstattung zu kurz, gerade in Bezug auf Freiberufler: Wie finanzieren Addario und ihre Kollegen kurzfristig Flüge in oder aus Krisengebieten, die erfahrungsgemäß teuer sind? Wer versichert sie, ihre Gesundheit, ihre Behandlungen und Auszeiten nach Verletzungen, aber auch ihr Equipment? Nach ihrer Befreiung aus libyscher Geiselhaft lehnte Addario die 3000 Dollar ab, mit denen libysche Diplomaten sie für den Verlust ihres Bargelds bei ihrer Gefangenschaft kompensieren wollte – und bereute es später: Ihre Kameras und Objektive im Wert von 35.000 Dollar sah sie nie wieder (S. 309).
Auch wird nicht thematisiert, inwieweit Redaktionen ihre Journalisten überhaupt professionell auf Einsätze in Krisen- und Kriegsregionen vorbereiten. Addario selbst ist im Feld zur Kriegsberichterstatterin geworden (S. 65, 120, 260). In Deutschland bietet das Bundesministerium der Verteidigung in Zusammenarbeit mit Berufsfachverbänden seit 1999 den Lehrgang für Journalisten „Schutz und Verhalten in Krisenregionen“ in Hammelburg an (BMVG 2016). Aber noch immer sind Trainings für Journalismus in Krisengebieten kein fester Bestandteil der journalistischen Ausbildung.
Dass Redaktionen freiberufliche Fotojournalisten schlechter stellen als Angestellte, hat eine neue Studie wieder belegt (Istek 2017; vgl. auch International News Safety Institute 2003, S.ii). Auch Lynsey Addario beschreibt, wie sie als freie Fotografin viele Jahre wenig Geld hat. Aus einem Brief an einen ihrer prominentesten Auftraggeber schimmert Frustration durch: Das New York Times Magazine wollte ihre Aufnahmen aus dem Korengal-Tal nur noch teilweise veröffentlichen. Addario schrieb an den Chefredakteur: „Nach allem, was ich auf mich genommen habe, um aus unmittelbarer Nähe diese Bilder von Soldaten und Zivilisten im Krieg zu machen, bitte ich Sie, ein Mindestmaß an Risiko auf sich zu nehmen. Dass Sie keine ‚kritischen Nachfragen‘ riskieren wollen, nachdem ich zwei Monate meines Lebens riskiert habe, ist die größte Beleidigung, die ich je gehört habe. Wir vertreten die New York Times. Wir haben die Verantwortung, die gesammelte Information zu veröffentlichen, anstatt den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, uns selbst anzuzweifeln und uns Sorgen über kritische Fragen des Militärs zu machen“ (S. 255).
Das Magazin veröffentlichte eine Auswahl von Addarios Fotos online (Addario 2008) – nicht aber das Porträt des Jungen Chalid, dessen Splitterverletzungen im Gesicht vermutlich von NATO-Bomben stammten (S. 250, 253). Diese Aufnahme erscheint erstmals in Addarios Buch, zusammen mit vielen anderen, die international publiziert wurden.
Lynsey Addarios Autobiografie ist spannend von der ersten bis zur letzten Seite, auch wenn Sachinformationen und eine tiefere Reflexion, warum sie den Beruf der Kriegsfotografin gewählt hat, fehlen. Addario beschreibt eindrücklich, dass Frauen noch immer benachteiligt werden – weil sie Frauen sind. Addario weiß, wie privilegiert sie ist: „Jeder neue Einsatz, sei es im Kongo, in Darfur, in Afghanistan oder anderswo, machte mir bewusst, was für ein Glück ich hatte, eine unabhängige, gebildete Frau zu sein. Ich war 31 Jahre alt und genoss es, das Recht zu haben, selbst zu entscheiden, wen ich lieben und welcher Arbeit ich nachgehen wollte“ (S. 207).
Literatur:
- Addario, Lynsey: Subduing the Korengal Valley. In: New York Times, 21.02.2008. http://www.nytimes.com/slideshow/2008/02/21/magazine/0224-AFGHAN_index-2.html (30.03.2017).
- Bishara, Amahl: Local hands, international news. Palestinian journalists and the international media. In: Ethnography, 7(1), 2006, S. 19-46 [DOI: 10.1177/1466138106064590].
- Bundesministerium der Verteidigung BMVG: Termine und Anmeldung für die Journalistenausbildung, 21.11.2016. http://bit.ly/2ojXiqr (30.03.2017).
- Committee to Protect Journalists CPJ: 1236 Journalists Killed since 1992. https://cpj.org/killed/ (02.05.2017).
- International News Safety Institute: Dying to Tell the Story. The Iraq War and the Media: A Tribute. Brüssel [International Press Centre] 2003.
- Istek, Pinar: On Their Own: Freelance Photojournalists in Conflict Zones. In: Visual Communication Quarterly, 24(1), 2017, S. 32-39 [DOI: 10.1080/15551393.2016.1272419].
- Newman, Elana, Roger Simpson & David Handschuh: Trauma exposure and post‐traumatic stress disorder among photojournalists. In: Visual Communication Quarterly, 10 (1), 2003, S. 4-13 [DOI: 10.1080/15551390309363497].
- Runge, Evelyn: Tagungsbericht: Thementage: Krieg erzählen, 20.02.2014 – 22.02.2014, Berlin. In: H-Soz-Kult, 11.06.2014. http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5385 (30.03.2017).
Links:
Über das BuchLynsey Addario: Jeder Moment ist Ewigkeit. Als Fotojournalistin in den Krisengebieten der Welt. Berlin [Econ] 2016, 368 Seiten, 25,- Euro.Empfohlene ZitierweiseLynsey Addario: Jeder Moment ist Ewigkeit. von Runge, Evelyn in rezensionen:kommunikation:medien, 2. Mai 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20064