Rezensiert von Martin Gehr
Der Reclam-Verlag ist für die Kompaktheit seiner Publikationen bekannt, was vor allem auf die Größe der Bücher zutrifft. Die ,gelbe Reihe‘ Universal-Bibliothek mit ihren Dramen, Gedichtbänden, Romanklassikern und Sekundärliteratur existiert seit 150 Jahren und umfasst mittlerweile 3000 Titel. Nun hat der Reclam-Verlag eine neue Reihe ins Leben gerufen, die ebenfalls durch Bündigkeit punkten soll: Sie heißt 100 Seiten und liefert in diesem Umfang Einführungen zu gesellschaftsrelevanten Themen, die vielfach als mediale Produkte oder Personen zu definieren sind und denen ein Kultstatus nachgesagt wird. Dazu gehören u.a. „Twin Peaks“, „Gilmore Girls“ und „Trash-TV“, aber auch „Bud Spencer“ und „David Bowie“. Das rkm-Journal hat sich zwei Bände der Reihe vorgeknöpft, die dem Comic-Universum entsprungen sind: Asterix. 100 Seiten und Superhelden. 100 Seiten.„Wir befinden uns im Jahre 50 v. Chr.“ oder: Das Dorf der Verrückten
Das gallische Dorf und seine Bewohner um Asterix und Obelix sind für viele Comicleser eine Heimat geworden. Trotz ihrer mangelhaften Manieren fühlt man sich in ihrem Umfeld wohl. Neue Geschichten bescheren neue Lektüre-Erlebnisse, wobei viele Bände wiederholt gelesen werden, ohne an Qualität zu verlieren. Solche Merkmale zeichnen Klassiker aus. Asterix sei „eine einzigartige Mixtur aus fliegenden Fetzen und hintersinnigen Bemerkungen“ (S. 97), schreibt der Aachener Althistoriker Jörg Fündling, der sich für den Reclam-Verlag des Themas angenommen hat und sich im Prolog als langjähriger Fan charakterisiert.
Fündling erzählt, wie Asterix von einer Serie in der französischen Comiczeitschrift Pilote zur eigenständigen Medienmarke wurde. Er fächert auf, wie die Reihe auch in Deutschland erfolgreich platziert werden konnte und warum die Übersetzungsleistungen dabei eine wichtige Rolle spielten. Dazu lässt er auch Anekdoten wie die oft erzählte ,Kauka-Affäre‘ einfließen, bei der 1965 zunächst Comicverleger Rolf Kauka die Abenteuer eindeutschte, allerdings bis zur Peinlichkeit verschandelte: Dass Asterix und Obelix nun Siggi und Babarras hießen und in Bonnhalla wohnten, war noch das kleinste Übel, bis ihm ein Jahr später die Lizenz entzogen wurde, woraufhin er als Trotzreaktion eine ähnlich gelagerte Serie namens Fritze Blitz und Dunnerkiel startete (vgl. S. 31).
Zwar liefert Fündling Verlagshintergründe, Informationen zum Merchandising und zur Entstehung der Kinofilme. Aufgrund seiner Expertise betrachtet er das Thema jedoch aus stark historischer, teilweise sprachwissenschaftlicher, aber wenig medien- und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Mit viel persönlicher Interpretation beschreibt er, auf welchen Tatsachen die Geschichten basieren und wo zu viel „gesponnen“ wird. Gerade hierbei offenbart er das kleinkarierte Verhalten eines Edelfans. Dies führt gelegentlich zu maßlosem Sermon, besonders über die Antike des Asterix (S. 46-56): So stellt er infolge historischer Ungenauigkeiten in den Bänden u.a. klar, dass es das Kolosseum in Rom 50 v. Chr. noch nicht gab (vgl. S. 46), Pompeji noch nicht untergegangen war (vgl. S. 47) und dass ein Dekurio entgegen der Beschreibung keine Patrouille aus Legionären leite, weil er zur Kavallerie und nicht zur Infanterie gehöre (vgl. S. 47). Der Autor springt auch gern mal von einem zum anderen Abenteuer, liefert allerdings ausgiebig Seitenverweise für alle, die die Bände im Regal stehen haben. Für Neulinge ist dieses Buch daher nur bedingt geeignet, zumal es viele subtile Anmerkungen enthält, die sich ohne Kenntnis schwer einordnen lassen.
In einem eigenen Kapitel (Triumphator oder Siegalapyrrhus?, S. 63-93) arbeitet er chronologisch die Zeit nach dem Tod des Texters René Goscinny auf, die als neue Ära bezeichnet wurde, da sie Veränderungen mit sich brachte, die zwar grafisch funktionierten, zwischenzeitlich aber Episoden bewirkten, die entweder langweilig (Obelix auf Kreuzfahrt) oder dämlich (Gefahr aus dem All) gerieten. Erfreulicherweise widmet er sich auch dem Autorenduo Jean-Yves Ferri und Didier Conrad, das seit 2013 für die Umsetzung verantwortlich ist. Dabei befasst er sich mit der Frage, inwieweit ein Klassiker, der seit fast 60 Jahren existiert, immer wieder den Spagat zwischen Markenidentität und Innovation schaffen soll. Wie der Autor betont, sei Asterix zudem fast „Bildungsgut“ (S. 36), obwohl die oft mit roher Gewalt bestandenen Abenteuer nicht nur schräg, sondern mit Absicht respekt-, teilweise geschmacklos, auf jeden Fall aber anarchisch seien (vgl. S. 4; 13; 97).
Wäre das ganze Buch wie das sechste Kapitel – klar strukturiert und analysiert, für Einsteiger wie Experten nachvollziehbar, dazu gleichzeitig informativ und leseattraktiv – es wäre ein Festmahl. So mag Fündlings essayistische Aufarbeitung die aktuellste Auseinandersetzung mit dem Asterix-Mythos sein, aber keineswegs die brauchbarste. Einige Infokästen, Grafiken und Schwarz-Weiß-Fotos, die teilweise dem Privatalbum entnommen scheinen, tragen erst recht nicht dazu bei. Lizenzierte Abbildungen aus den Comics, die manche Schilderung hätten veranschaulichen können, gibt es nicht. Glücklicherweise listet der Autor am Ende weitere Sekundärwerke als Literaturtipps auf, mit denen er belegt, dass man sich auf diesem Gebiet Lohnenswerterem zuwenden kann.
„Nur noch kurz die Welt retten“ oder: Was an Helden super ist
Der Autor weist in seiner Einleitung darauf hin, dass das „vorliegende Bändchen“ versuche, den „Umriss einer Antwort“ auf die Frage zu skizzieren: „Warum bedeutet dieses Zeug manchen Menschen so viel?“ (S. 11). Er stellt gleich klar: „Wer es wirklich wissen und selbst verstehen will, wird nicht umhinkommen, die Comics zu lesen, von denen die Rede ist“ (ebd.). Gerade dies zeigt, dass sich Dath Gedanken über den Anspruch und die divergierende Zielgruppe gemacht hat und dass es ihm gelingt, beiden Erwartungen – Debütanten wie Fans – gerecht zu werden.
Strukturen und Phänomene der Superheldencomics erläutert er jeweils an einer zentralen Figur. Das macht seine Analysen übersichtlich, da er Sprünge vermeidet. So widmet er sich ausführlich The Saga of the Swamp Thing (eine Symbiose aus Mensch und Pflanze), erklärt anhand der „Hauptmetaphern“ (S. 82) von Iron Man die Psychologie menschlichen Verhaltens (S. 53ff.), und porträtiert auf neun Seiten Wonder Woman, eine der wenigen weiblichen Protagonistinnen. Im Kapitel über Superschurken (S. 77-82) zeigt er auf, dass nicht alles super ist, sondern The Fantastic Four als schlechtes Beispiel für Comicadaptionen gelten könne, weil die Verfilmung aus dem Jahr 2015 den Stoff ,verhunzt‘ habe (vgl. S. 78). X-Men zieht er hingegen zur Erläuterung von „Teamgeschichten“ (S. 83) heran, die er als „Quasifamilienroman“ bezeichnet (S. 83f.). Natürlich werden auch die Archetypen Batman, Spiderman und Superman berücksichtigt, aber nicht verpflichtend umfassend. Das macht das Buch originell, indem es Erwartungen positiv unterläuft.
Besonderes Augenmerk legt Dath in seinen Interpretationen auf zwei typische Aspekte: die Psychologie der Geschichten sowie deren Glaubwürdigkeit. Das Superheldengenre sei als „mythopoetisches Vergrößerungsglas des Individualismus“ (S. 84) zu verstehen – mit Persönlichkeiten, die einerseits mit einer Hochbegabung gesegnet und andererseits beschädigt seien (vgl. S. 87). Superhelden stecken „ihr Leben lang in einer Lage, die gerade dem pubertierenden Teil der Leserschaft nur allzu vertraut vorkommen muss: teils wunsch-, trieb- und dickschädelgesteuert, teils innerlich gehemmt, nie hinreichend in Gemeinschaften integriert, um nicht permanent fürchten zu müssen, wieder herauszufallen“ (S. 60). Der Widerspruch manifestiere sich auch visuell in auffälligen Kostümen, „die gleichzeitig Zeichen auftrumpfenden Geltungswillens und Mittel der Selbstverbergung“ seien (S. 61). Die Frage „Glaube ich das überhaupt, was mir da erzählt oder gezeigt wird?“ (S. 38) hält der Autor ebenfalls für relevant. Die allgemeingültige „Konstruktion von Welt“ durch die Kunst (S. 36) müsse durch die „Aufhebung des Unglaubens“ ergänzt werden, um fantastisch strukturierte Handlungen als gegeben zu akzeptieren (S. 37f.).
Leider hat Daths Publikation auch zwei deutliche Schwachstellen: Ausschweifend beschreibt er im ersten Teil die Kunstepoche der Romantik (S. 28-45) und inwiefern sie als Grundlage der Heldenmythen angesehen werden kann. Parallel dazu verliert er sich in Genre-Definitionen. Obwohl er klarstellt, dass die Genre-Debatte um Superheldencomics unbefriedigend ist (vgl. S. 33), scheint sie ihm wichtig zu sein, weshalb er über „Genresubkulturen“ (S. 40) zwischen Science-Fiction, Science-Fantasy, High Fantasy, Epic Fantasy, Bizarro Fiction und Supernatural Horror fabuliert. Wer nur 100 Seiten zur Verfügung hat, sollte sich unproduktive Diskussionen sparen. Das ist Platzverschwendung.
Die Bebilderung ist akzeptabel: Sechs Fotos zeigen Comicautoren wie Chris Claremont, Joe Shuster und Jerry Siegel. Die eingestreuten Grafiken, die u.a. darstellen, welche Superhelden einen Umhang tragen, sind allerdings belanglos.
Insgesamt setzt sich Dietmar Dath sehr engagiert mit dem Kultstatus der Superhelden auseinander. Er beleuchtet, dass diese Gattung nicht nur das Klischee von Gut und Böse anbietet, sondern viel mehr Identität, Schicksalsverarbeitung und Persönlichkeitsentwicklung im Zentrum stehen. Weil er dafür Details der Geschichten auffächert, sei vor dem ein oder anderen Spoiler gewarnt, der entscheidende Handlungsmomente (z.B. zu Iron Man, S. 53-55) offenlegt. Seine Schilderungen liefern Erkenntnisgewinne und motivieren dazu, die Superheldencomics neu zu entdecken oder sich ihnen wieder anzunehmen – auch geprägt durch die Verfilmungsorgien der Gegenwart.
Links:
- Verlagsinformationen zur Buchreihe
- Webpräsenz von Dr. Jörg Fündling
- Webpräsenz von Dietmar Dath
- Webpräsenz von Martin Gehr
Dietmar Dath: Superhelden. 100 Seiten. Stuttgart [Reclam] 2016, 101 Seiten, 10;- Euro.Empfohlene ZitierweiseAsterix und andere Superhelden:
Die Reclam-Reihe 100 Seiten. von Gehr, Martin in rezensionen:kommunikation:medien, 5. Mai 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20142