Kayo Adachi-Rabe, Andreas Becker (Hrsg.): Körperinszenierungen im japanischen Film

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Rezensiert von Astrid Matron

Einzelrezension
Wer – auch nur wenige – japanische Filme kennt, wird bemerkt haben, dass sich diese durch eine besondere Körperlichkeit auszeichnen. Gerade aus einer westlichen Perspektive heraus erscheinen der Umgang mit und die Darstellung von Körpern ungewöhnlich, variantenreich und nicht festlegbar: Mal verbinden sich menschliche Körper mit Maschinen oder Waffen, um als Cyborg von gesellschaftlichen Utopien und Dystopien zu künden; mal zeugen riesige Monsterfiguren von den Gespenstern moderner Kriegstechnologie; mal wird der menschliche Körper als Spielort für wandelbare soziale und geschlechtliche Positionen dargestellt. Kayo Adachi-Rabe und Andreas Becker haben diesen vielfältigen Herangehensweisen 2013 eine Tagung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main gewidmet. Im nun zu dieser Tagung erschienenen Sammelband untersuchen die Autorinnen und Autoren in zwölf (teils englischsprachigen) Beiträgen und einer umfassenden Einführung mit unterschiedlichen kinematographischen Schwerpunkten und theoretischen Ansätzen den Variantenreichtum japanischer Filmkörper.

Die Einleitung des Herausgeberduos holt weit aus: Sie bietet eine geistesgeschichtliche Verortung von Körperkonzepten Ostasiens und vergleicht diese mit europäischen Vorstellungen von der Antike bis zur Philosophie der Moderne. Der Fokus liegt dabei auf der propagierten Verbindung von Körperertüchtigung, Geistesbeherrschung, Übungen und Meisterschaft. Beispiele sind sowohl der japanische ‚Teeweg‘, die buddhistische Kunst der ‚Selbstentleerung‘ als auch die Parallelen von japanischen und antiken europäischen Theaterformen. Über diese „kulturelle[n] Basisnarrative“ (S. 11) und ihren Einfluss auf die performativen Künste werden die Ausführungen immer wieder auf das Medium Film bezogen: Film, so die Annahme, „repräsentiert nicht nur die körperliche Erfahrung, sondern ist eine eigenständige bildhaft-technische Form der Leib-Imagination“ (ebd.).

Mit Rückgriff auf Vivian Sobchack, die eine der Begründerinnen einer körper- und wahrnehmungsorientierten Filmtheorie ist, sowie neueren Ansätzen von Marcus Stiglegger und Ivo Ritzer, spannen sie den Bogen zu einer Verschränkung dieses ‚Imaginationsleibs‘ mit dem physischen Körper der Zuschauer, in welcher sich diese gegenseitig beeinflussen. Unter diesem breiten Spektrum, das zunächst die Bedeutung und Analysemöglichkeiten für Körperlichkeit im japanischen Film offenlegt, lesen sich dann auch die folgenden Beiträge. Die Herausgeber verzichten auf eine thematische Gliederung des Bandes und lassen die Artikel in ihrer Diversität nebeneinanderstehen. Hierzu gehört auch, dass die Beiträge eine gelungene Mischung aus bekannten Spielfilmen und Filmemachern wie auch eher unbekannten Experimental- und Animationsfilmen untersuchen.

Der erste und gewissermaßen programmatisch voranstehende Aufsatz (S. 47-72) stammt von einem der international renommiertesten Wissenschaftler für asiatisches Kino. Wimal Dissanayake setzt sich mit den Körperdarstellungen in Takeshi Kitanos Zatoichi – The Blind Swordsman (2003) auseinander und stellt zehn Thesen auf, nach denen sich die Körper in Kitanos Film fassen lassen. Seine Ausführungen unterstützt er einerseits mit westlichen Theorien u.a. von Judith Butler, Michel Foucault und Friedrich Nietzsche, anderseits mit ostasiatischen ästhetischen und philosophischen Konzepten von Tetsurō Watsuji, Yasuo Yuasa und Kitarō Nishida. Indem er diese Ansätze verwendet und teilweise verschränkt, verdeutlicht er die Gleichzeitigkeit globaler Konventionen und spezifisch japanischer Auslegungen von Körperlichkeit, die auch dem Film zu eigen ist. Die dichten Ausführungen Dissanayakes lassen viel Raum für weiteres Nachdenken; manchmal wäre es jedoch wünschenswert gewesen, die vorgestellten Ansätze in Bezug auf den Film ausführlicher zu analysieren. Der Lesegenuss des englischsprachigen Beitrags wird zudem durch Tipp- und Wortfehler geschmälert.

Im zweiten Aufsatz (S. 73-95) bespricht Felix Lenz am Beispiel zweier Filme von Shōhei Imamura das Spannungsfeld, in dem sich deren Körper befinden: Zwischen traumatischen persönlichen und sozialen Ordnungen oszillieren die Figuren in einer ständigen Neubestimmung von Identität und Gesellschaft. Mit einer Heuristik, die von Jacques Lacans Trias des Realen, Imaginären und Symbolischen inspiriert ist, untersucht Lenz die Wechselverhältnisse von Körper, Bild und Sprache in beiden Filmen und verknüpft dabei filmästhetische mit kulturwissenschaftlichen Fragen.

Mario Kumekawa analysiert ganz andere Körper: die der berühmten Monsterfiguren des japanischen Kinos, die als mutierte drachen- oder mottenartige Riesentiere Godzilla und Mothra seit Jahrzehnten die asiatische Filmwelt bevölkern (S. 97-108). Ähnlich wie japanische Superhelden (etwa ‚Ultraman‘) bespielen diese Charaktere bestimmte Motivfelder, die historisch wandelbar sind und von der Nachkriegszeit, Atombomben, Kriegstoten und Strahlenopfern bis zur jüngsten Katastrophe von Fukushima 2011 gesellschaftlichen und historischen Ängsten und Traumata einen Körper geben.

Die Beiträge von Hyunseon Lee (S. 109-123) und Andreas Becker (S. 125-144) zielen vor allem auf die Präsenz des Schauspielerkörpers ab und untersuchen, mit welchen filmästhetischen Konzepten sich klassische Regisseure wie Akira Kurosawa, Yasujirō Ozu und Mikio Naruse die Körper ihrer Darsteller zu Nutze machen. Der „Körper als Material“ (S. 109) wird hier sowohl innerhalb eines typischen Körper-Genres wie dem Martial-Arts-Film betrachtet, als auch Genre-übergreifend am Darstellungsstil einer Schauspielerin. Ebenfalls aus einer früheren Epoche stammen die Werke, die Marcos P. Centano Martín (S. 145-162) untersucht: Es sind Filme von Kō Nakahira und Takumi Furukawa, die vor allem in den 1950er Jahren von einer orientierungslos gewordenen jungen Generation zeugen. Martín lenkt den Blick auf physische wie symbolische Transformationen, die die filmischen Körper durchlaufen, und zeigt auf, wie transkulturelle Aspekte von Modernität, Geschlechterrollen und Westernisierung die japanischen Nachkriegskörper formen.

Die anschließenden Aufsätze betrachten wieder neuere Filmbeispiele, wobei die thematische und methodische Diversität abermals deutlich wird: Florian Mundhenke etwa zeigt anhand eines japanisch-amerikanischen Vampirfilms auf, wie postmoderne Körpererfahrungen kulturübergreifend vergleichbar und analysierbar sind, und verfasst nebenbei eine kleine Kulturgeschichte des Vampirmythos (S. 163-186). Kentarō Kawashima untersucht den Film Kafka – Ein Landarzt (2007) und zieht eine Verbindungslinie vom Slapstick der Stummfilmzeit bis zum japanischen Animationsfilm (S. 187-201). Wie bereits in anderen Beiträgen arbeitet auch Kawashima die Theaterform Kyōgen als Verständnisrahmen für japanische Körperlichkeit heraus.

Besonders erwähnenswert sind zudem die Beiträge von Kayo Adachi-Rabe und Simon Frisch. Die Herausgeberin schafft in ihrem Artikel (S. 219-238) einen Zugang zum Werk des Experimentalfilmers Shûji Terayama: Er machte in den 1960er und 1970er Jahren den Körper des Mediums Film (in seinem Fall analoge 16mm-Filme) zu seinem Untersuchungsgegenstand. Adachi-Rabe stellt heraus, wie Terayama „die Welt der Imagination zu inkarnieren“ (S. 237) versuchte. Simon Frisch hingegen unternimmt das spannende Experiment, ein grundlegendes ostasiatisches Ästhetik-Konzept auf die Filmtheorie zu übertragen (S. 239-263): Mit seinen Ausführungen zur Theorie des kire (wie sie Ryōsuke Ōhasi in seinem Buch Kire. Das Schöne in Japan 1994 entwickelte) eröffnet der Autor neue Möglichkeiten für eine Filmwissenschaft, die sich (nicht nur) mit asiatischem Film auseinandersetzt. Zugleich zeigt er auf, wie wertvoll es sein kann, von der gängigen eurozentristisch geprägten Theorieperspektive Abstand zu nehmen.

Insgesamt sind hier eine Reihe kenntnisreicher und anregender Artikel zu Körperkonzepten des japanischen Films gebündelt worden. Wie sie selbst in der Einleitung betonen, ging es den Herausgebern darum, sich über „konkrete ästhetische Bezugnahme“ (S. 36) am Beispiel des japanischen Films dem Phänomen spezifischer, bild-kulturell geprägter Körperdarstellungen anzunähern. Daraus, so der mitformulierte Anspruch, ließen sich weitere Forschungsfelder der Film- und Medienwissenschaft eröffnen. Mit dem Sammelband ist dies durchaus gelungen, da er einen breit gefächerten Einblick in ein heterogenes japanisches Kino bietet, die einzelnen Beiträge in ihrer Kürze aber gleichzeitig zum Weiterdenken anregen.

Links:

Über das BuchKayo Adachi-Rabe, Andreas Becker (Hrsg.): Körperinszenierungen im japanischen Film. Darmstadt [Büchner] 2016, 302 Seiten, 37,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseKayo Adachi-Rabe, Andreas Becker (Hrsg.): Körperinszenierungen im japanischen Film. von Matron, Astrid in rezensionen:kommunikation:medien, 13. Februar 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19896
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