Rezensiert von Hans-Dieter Kübler
In den 1950er und früheren 1960er Jahren wurden Comics als ‚Funnies‘ und ,Adventures‘ von Kindern und Jugendlichen, quasi als das singuläre Jugendmedium, heiß begehrt und unentwegt verschlungen – auch deshalb, weil sie von Eltern und offiziellen Jugendschützern kritisch beäugt, wenn nicht verfolgt wurden. In den späten 1960er und 1970er Jahren entwickelten sich Comics einerseits zum rebellischen Underground-Medium, da sich sämtliche Tabuthemen visuell erproben und diverse Subkulturen darstellen ließen. Andererseits wurden sie bald vor allem in der frankophilen Asterix-Version als veritables Album hochgeschätzt und sukzessive als Kunstmedium anerkannt.
Danach ist das Genre der Comics derart diversifiziert und in Spezialforen verschwunden, dass nur noch Insider ihre mannigfaltigen Varianten, Ausgaben und Urheber als Zeichner und Texter kennen. Lediglich als Graphic Novels (einer Untergruppe von Comics) und im Web-Format dürften sie den meisten Jugendlichen begegnen und nennenswerte Resonanz finden. Entsprechend sind die Forschung und Sekundärliteratur darüber weitgehend versiegt. So ist der vorliegende Reader von Julia Abel und Christian Klein seit längerem die einzige deutschsprachige aktuelle Bestandsaufnahme über dieses mediale Gefüge, zumal mit nahezu sämtlichen Aspekten und systematischer Struktur, die sich aus drei Themenblöcken und 18 Kapiteln generiert.
17 Autoren haben die beiden Herausgeber, Literaturwissenschaftler an der Universität Wuppertal, für das Sammelwerk gewinnen können, darunter so bekannte wie den langjährigen Lektor des Carlsen Verlags, Andreas C. Knigge, der auch das Comic-Jahrbuch herausgab. Er schrieb die einleitende Übersicht über die Geschichte und Entwicklung der Comics seit dem 18. Jahrhundert, der gezeichneten Satire, bis hin zu den Manga und Graphic Novels des 21. Jahrhunderts.
Es folgt eine kompakte Bestandsaufnahme der „Produktion, Distribution und Rezeption“ (S. 38-55), die unter dem Mangel aktueller, möglichst repräsentativer Daten zu leiden hat, aber sorgfältig zusammenträgt, was verfügbar ist. Es schließt sich eine originelle genrespezifische Klassifizierung darüber an, was ein Comic in den Koordinaten von Medialitäten, Formen und Erzählungen überhaupt sei (S. 56-73). Folgerichtig kann die Antwort nur differenziert ausfallen, wenn sie die unterschiedlichen Perspektiven und Ansätze aufgreift.
Von „Analyse und Forschung“ (S. 77-139) handelt der zweite Themenblock. Er befasst sich mit dem konkreten Vorgehen bei der Comicanalyse in einem Leitfaden, mit dem Stand und den diversen Zugängen der Comictheorien sowie – als hilfreicher Wegweiser – deren Institutionen und Ressourcen, wenn man selbst über Comics forschen will.
Anschaulicher zumal für Comicfreunde ist der dritte und größte Bereich der Abhandlung, der in zwölf Kapiteln (S. 143-315) nahezu sämtliche erdenkliche Formate und Genres der Comics und Graphic Novels in Text und Bild vorstellt – vom ersten Comicstrip in den amerikanischen Blättern bis zu so genannten Metacomics, also selbstreflexiven und -referenziellen Genres (z.B. 99 Ways to Tell a Story von Matt Madden, vgl. S. 304f.). Daraus ergibt sich sowohl eine Fundgrube an Versionen und Beispielen, aber auch an analytischen Hilfen. Zwar schränken die Herausgeber in ihrem Vorwort vorsorglich ein, dass der Band „natürlich nicht alle existierenden Comicgenres vorstellen kann“, sich vielmehr auf die „etablierten“ (S. VI) konzentriert, aber in dieser Fülle und Vielfalt hat es zuvor keine Übersicht geschafft. Außerdem notieren die einzelnen Beiträge, wofür es einigermaßen gesicherte Erkenntnisse und Befunde gibt und wo Forschung nötig ist.
Lediglich als „Einführung“ wollen die Herausgeber ihren Reader verstanden wissen; angesichts besagter Literaturlage, aber auch der profunden, differenzierten Aufarbeitung lässt er sich durchaus als Handbuch werten, zumal er zu jedem Thema eine kommentierte Auswahlbibliographie, zu den Genres des dritten Themenblocks auch exemplarisch Primärliteratur, ein Glossar für Fachbegriffe sowie ein Personenregister bietet. Im laufenden Text sind wichtige Definitionen, Ansätze und Thesen in Kästen hervorgehoben, die auf das Glossar verweisen. So kann man nur wünschen, dass dieser Band die Beachtung und Wertung der Comics, die sie verdienen, erneut stimuliert und zur weiteren analytischen Beschäftigung mit ihnen anregt.
Links:
Über das BuchJulia Abel, Christian Klein (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart [J.B. Metzler] 2016, 344 Seiten, 24,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseJulia Abel, Christian Klein (Hrsg.): Comics und Graphic Novels. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 6. Januar 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19725