Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hrsg.): Technisierte Lebenswelt

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Rezensiert von Thomas Christian Bächle

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Die „technisierte Lebenswelt“ und die „Figuration von Mensch und Technik“ – so die im Titel vorgenommene Selbstverortung des Sammelbandes – sind bewährte Motive soziologischer Beobachtung von Gesellschaft. Dabei berufen sich die drei Herausgeberinnen u.a. auf Konzepte von Edmund Husserl und Alfred Schütz (vgl. S. 13f.) sowie Norbert Elias (vgl. S. 17f.). Der thematische Fokus des Bandes erschließt sich damit aber nicht sofort. Hilfreich ist deshalb, dass Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai und Julia Knifka die theoretische und erkenntnisleitende Ausgangssituation auf die heutige Verflechtung von Mensch und Technik übertragen. Mit der Kontinuität zu kanonischen Grundsätzen liegt die Stärke des Bandes vor allem darin, dass soziotechnologische Phänomene betrachtet werden, die als neu gelten und damit einer wissenschaftlichen Einordnung bedürfen.

Die Herausgeberinnen messen einer thematischen und interdisziplinären Vielfalt großes Gewicht bei. Zugleich präsentieren sie ihr Werk als Ergebnissicherung einer Nachwuchstagung, die 2014 am Karlsruher Institut für Technologie stattfand (vgl. S. 27). Dieser Hinweis erklärt auch die Heterogenität, die für Publikationen dieser Art typisch ist. Das konzeptuelle Fundament der „Lebenswelt“ wirkt zunächst sehr inklusiv. Diese Offenheit birgt gleichzeitig aber auch die Gefahr der begriffssprachlichen Überdehnung, die sich in einigen Beiträgen und auch der Benennung der fünf Kapitel des Bandes zeigt: Die Gliederung ist mehrdimensional und nicht immer trennscharf angelegt.

Im ersten Teil „Lebensräume“ werden Schnittstellen zwischen Mensch und Technik beschrieben – zum einen am Beispiel von Nutzer-Interfaces in ‚Smart Homes‘, zum anderen in der Verbindung von Körper und Mode. Für letztere sind so genannte ‚Wearables‘, ,Smart Clothes‘ oder die „Verwachsung von Haut und Textilien“ als ,Second Skin‘ (vgl. S. 83), wie sie im Beitrag von Viola Hofmann (S. 71-86) diskutiert werden, sehr aktuelle Manifestationen des Hybriden. Im Beitrag von Elisabeth Bergmann (S. 35-54) wird u.a. die interessante Frage nach „Steigerung und Verlust von Autonomie“ (S. 51) durch den Einsatz von Technik in der Architektur und ihren materiellen Bedingungen aufgeworfen. Die leitende Idee der Figuration bleibt hier jedoch ein wenig unterreflektiert, wenn von „natürlicher Technik“ (S. 51f.) die Rede ist und „Natur“, „Technik“ oder „Kultur“ als Bereiche in Erscheinung treten, die vermeintlich klar voneinander differenzierbar sind (vgl. S. 37).

Im Zentrum des zweiten Teils „Körperwelten“ stehen Prothesen, Implantate, Bio- und Selbstvermessungstechnologien. In den kontroversen Perspektiven von Optimierung, Kontrolle, Entfremdung, Diskriminierung oder Überwachung erfahren sie hier sowohl eine analytische als auch ethische Einordnung. In einigen Lesarten werden diese Mensch/Technik-Figurationen als linear fortschreitende Prozesse einer „Cyborgisierung des Menschen“ (so die normative Betrachtung von Marie Lena Heidingsfelder, S. 125-138) oder auch einer generellen „Transformation des menschlichen Körpers“ (bei Klaus Wiegerling, S. 143) gedeutet. Besonders hervorzuheben ist der Text von Florian Braune (S. 105-124), der sich mit Roboter-Prothesen auseinandersetzt. Darin zeigt er das Spannungsverhältnis zwischen ihrer medizinischen Nutzung und ihrem militärischen Einsatz auf, da sie in kriegerischen Kontexten immer auch einer „Kampfwertsteigerung“ (S. 120) dienen können. Braune erweitert dieses aufschlussreiche Argument um die drängenden Fragen nach der Eigenständigkeit technischer Systeme und inwieweit eine „Roboterethik“ (S. 121) notwendig erscheint. Letztere werde besonders dann relevant, wenn etwa eine entsprechend programmierte Prothese bestimmte Bewegungsmuster als erwünscht herbeiführt oder andere zurückweist (S. 118).

Unterschiedliche „Medienkulturen“ werden im dritten Teil nebeneinandergestellt. Während der Beitrag von Monika Hanauska (S. 189-208) die Frage aufwirft, ob „sich die internetbasierte Kommunikation auf die Sprache auswirkt“ (S. 189f.), untersucht Ramón Reichert visuelle Erinnerungspraktiken einer sich verändernden „Repräsentationskultur des Todes“ (S. 174). Diese zeigen sich nicht nur auf Online-Gedenkseiten (‚virtuellen Friedhöfen‘) sondern auch in der „Video-Kondolenz“ auf Plattformen wie YouTube (S. 183). Wie schon im Beitrag von Marie Lena Heidingsfelder im vorigen Kapitel nutzt auch Bianca Westermann (S. 159-172) die Cyborg-Figur, um Technologien zu kategorisieren, in diesem Fall u.a. mobile Medien und Implantate. „Der Cyborg“, theoretische Figur einer drei Jahrzehnte alten Debatte, wird mit dieser Prämisse letztlich zur positivistisch-normativen Folie („Ist der Cyborg in der Realität angekommen?“, S. 159). Besonders relevant ist der Text von Florian Krautkrämer (S. 209-224), der den Zusammenhang zwischen Krieg und den mit ihm verbundenen Bildern analysiert. Er geht von der These aus, dass mit den neuartigen Technologien der Dokumentation und Verbreitung von Kriegshandeln (Smartphones, YouTube oder GoPro-Kameras) ein verändertes visuelles Archiv des Krieges entsteht. Die „Medien der Selbstdarstellung“ beförderten eine bestimmte Art des Sehens, einen „involvierten Blick“, und könnten zugleich als Machtinstrument gedeutet werden (S. 210f.).

Im vierten Teil „Möglichkeitsräume“ betrachtet Bruno Gransche (S. 243-258) die Konsequenzen aus einem menschlichen Handeln, das sich vom „verantwortungsvollen und folgenbewussten Entscheiden“ zu „experimentellem Anstellen“ verändere (S. 244). Damit bezeichnet Gransche im Unterschied zum Herstellen oder Vorstellen ein „Initiieren oder Laufenlassen […] ohne genaue Verlaufs- und Wirkungsvorstellung“ (S. 248). Die zunehmende soziotechnische Komplexität mache es unmöglich, Konsequenzen beispielsweise aus biologischen Experimenten in vollem Umfang vorauszusehen. Der Verfasser schlägt deshalb die Übersetzung „chaotischer überfordernder Kontingenz“ in „vernünftige Kontingenz“ (S. 254) mit dem Mittel der Narration vor. Damit ist die Übersetzung des Unvorhergesehenen in das Ereignis innerhalb einer Geschichte gemeint, dem dadurch Sinn gegeben wird. Es bleibt jedoch fraglich, ob sich mit dem Mittel der linearen Erzählung und dem Rückgriff auf ‚die Vernunft‘ tatsächlich eine Lösung des ‚Kontingenz-Problems‘ bietet, drücken sie doch vor allem die Sehnsucht nach den klaren Verhältnissen der Moderne aus.

Klaus Birnstiel sucht in seinem mit „Prolegomena zu einer Philosophie des iGestells“ (S. 259-276) überschriebenen Beitrag im Schatten Martin Heideggers nach „Perspektiven für eine Philosophie des Gestells unserer Tage“ (S. 264). In Reverenz vor seinem Vorbild bietet der Text einige Sprachspiele und verbindet diese mit Alltagsbeobachtungen der Mediennutzung. Generell offenbaren sich hier die Schwierigkeiten einer analytischen Betrachtung, die sich selbstgenügsam ihrer eigenen Begriffssprache rückversichert, wenn Birnstiel seine Ausführungen mit dem Teilergebnis schließt, erste Aufgabe „einer zeitgemäßen Technikphilosophie“ müsse es sein, „zu einer adäquaten Beschreibung der Gegenwart des iGestells zu gelangen.“ Zudem solle sich „die kristallisierende Begriffsbildung selbst der liquiden Geschmeidigkeit der Technosphäre anverwandeln“ (S. 273). Gerade weil der Verfasser Bruno Latours bekanntes Werk Wir sind nie modern gewesen selbst anführt (S. 264, erstmals erschienen 1991), erstaunt es, dass dessen wichtigste Aussagen keine Berücksichtigung finden, wenn „Technikfragen“ zu „Wahrheitsfragen“ erklärt werden (S. 275). Die Fachwelt der Medienwissenschaft und Techniksoziologie hat auf diese schon einige kluge Antworten gegeben.

Der fünfte Teil „Techniknarrative“ schließt den Band mit einer Betrachtung vorwiegend  fiktionaler Werke ab, die sich dem Verhältnis zwischen Mensch und Technik widmen. Darunter befinden sich der Roman The Circle von Dave Eggers sowie die schwedische TV-Serie Real Humans – Echte Menschen. Wichtige Diskursstränge sind dabei Technik und Macht, Überwachung, das Unheimliche und erneut die Autonomie, wofür der Beitrag von Martin Hennig die „Mensch-Technik-Verhältnisse im Computerspiel“ genauer betrachtet (S. 325-340). Der letzte Teil endet mit einem Interview über das Recherche- und Katalogisierungsprojekt Future Life – We Read the Future. Es hat sich auf Science-Fiction-Texte spezialisiert und bietet eine kenntnisreiche Perspektive auf das „Innovationspotential“ dieses Genres (S. 367).

Insgesamt ist es den Herausgeberinnen gelungen, eine große Vielfalt an zumeist sehr relevanten Themen aus dem Bereich „Mensch und Technik“ aus den Sichtweisen unterschiedlicher Disziplinen in einem Werk zu versammeln. Gleichzeitig wirkt der Band jedoch etwas fragmentiert – ein Eindruck, der sich in den teilweise auffällig divergierenden Diskursebenen der Einzelbeiträge fortsetzt.

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Über das BuchMarie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hrsg.): Technisierte Lebenswelt. Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik. Bielefeld [transcript] 2016, 390 Seiten, 34,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseMarie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hrsg.): Technisierte Lebenswelt. von Bächle, Thomas Christian in rezensionen:kommunikation:medien, 29. November 2016, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19637
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