Rezensiert von Kai Matuszkiewicz
Das vorliegende Buch wendet sich einem Themenbereich innerhalb des breiten Forschungsfeldes digitaler Spiele zu, der besonders seit der berüchtigten Narratologen-Ludologen-Debatte zu den vitalsten Forschungszweigen zählt – die Schnittstelle zwischen Spiel und Erzählung. Das sehr ambitionierte Anliegen dieser Arbeit ist dabei “die Ausarbeitung einer Erzähltheorie unter den medialen Eigenheiten des Computerspiels“ (12). Wie nahezu alle vergleichbaren Studien dieser Art geht auch Schuppisser von einer Dichotomie als Basis seiner Überlegungen aus. So betrachtet er digitale Spiele sowohl als Simulationen (ludisch) als auch als Texte (narrativ), wobei der Text durch die Simulation erzeugt wird.Dem narratologischen Ansatz verpflichtet finden dementsprechend nicht Gonzalo Frascas Arbeiten zur Simulation Verwendung, sondern Marie-Laure Ryans “Simulationssystem“ (53). Hierdurch erfährt der Textbegriff eine entscheidende Erweiterung, die notwendig ist, damit dieser den medialen Eigenschaften digitaler Spiele Rechnung tragen kann. Wie der Text wird auch die Narration als Resultat einer Simulation begriffen, wodurch diese vom Text entkoppelt wird. Schuppisser verfolgt damit einen Ansatz, der beispielsweise bereits von Gordon Calleja beschritten wurde, wenn dieser von “alterbiography“ spricht (Calleja 2009: 1). Es geht darum, dass digitale Spiele nicht nur auf Narrationen setzen, die sie dem Spieler präsentieren, sondern dass dieser seine eigenen Geschichten kreiert. Im Unterschied zu traditionellen Erzählmedien interagiert der Spieler nicht nur mit dem Text, sondern auch im Text. Er wählt aus dem Paradigma, dem Nebeneinander verschiedener Handlungsoptionen, bestimmte Elemente aus und verkettet diese syntagmatisch. Hierdurch wird der individuelle, emergente und partizipatorische Charakter eines jeden Spieldurchgangs unterstrichen.
Die Hybridität von digitalen Spielen als Simulation und als Text führt Schuppisser weiter aus, wenn er die Quest als Verbindung von Spiel und Erzählung betrachtet. Neben den zu erwartenden Arbeiten (vgl. Campbell 2011 sowie Vogler 2010) greift er auch auf Algirdas Greimasʼ Studien zur Quest zurück und macht hierdurch dessen Trias Kontrakt – Kampf – Kommunikation für die Digital Game Studies fruchtbar. Es stellt sich aber auch nach den anschließenden, durchaus erhellenden Analysen die Frage, inwiefern dieses Modell weniger “grobmaschig“ ist als andere Arbeiten hierzu (87).
Ein generelles Problem der Studie sind die zu weiten Begriffsverwendungen, die selbst zentrale Termini wie Simulation, Text oder Narration betreffen. Denn, obwohl der Forschungsstand in den Digital Game Studies selbst gut erfasst wurde, fehlt es am Einbezug kanonischer Forschungstexte zu den jeweiligen Bereichen. So werden klassische und postklassische erzähltheoretische Texte kaum und Klassiker der Simulationstheorie wie Jean Baudrillards Simulacra and Simulation (2010) gar nicht berücksichtigt. Neben den zu weiten Begriffsverwendungen schmälert auch die Argumentationsführung den heuristischen Wert des dargebotenen Forschungssettings. Ein Ansatz, der sich als hybrid versteht, sollte keinesfalls derart oberflächlich mit ludologischen Argumenten umgehen, die Schuppisser nahezu restlos versucht zu entkräften, insofern sie dem narratologischen Deutungsschema entgegenstehen. Dabei verfügen die vorgebrachten Gegenargumente aber selten über die Überzeugungskraft, die ihnen zugeschrieben wird. Ein Mehrwert der Studie liegt ohne Zweifel in den Modifikationen bestehender Modelle, die in der Regel aus Synthesen verwandter Ansätze erzeugt werden (vgl. exemplarisch 117). Diese bereichern zwar die Analyse digitaler Spiele, sie bilden aber keineswegs eine durchweg kohärente Theorie.
Die Gründe dafür, dass das Buch an seinem eigenen Anspruch scheitert, sind vielfältig. Einerseits ist eine Masterarbeit, selbst in überarbeiteter Form, nicht der Rahmen, um ein derart komplexes Vorhaben umzusetzen. Andererseits führen die fehlende theoretische Fundierung in Narratologie und Simulationstheorie gemeinsam mit den inflationären und zum Teil unreflektierten Begriffsverwendungen zu erheblichen Inkonsistenzen. Schuppissers Arbeit mag zwar keine Erzähltheorie digitaler Spiele sein, dennoch bietet sie Neulingen einen umfassenden Einblick in dieses umfangreiche Forschungsfeld, vor allem dann, wenn es um die Erforschung narrativer digitaler Spiele mit Open-World-Prinzip geht.
Literatur:
Baudrillard, J.: Simulacra and Simulation. [Nachdruck]. Ann Arbor, MI [Univ. of Michigan Press] 2010.
Calleja, G.: Experiential Narrative in Game Environments. In: Proceedings of DiGRA 2009. URL: http://www.digra.org/dl/db/09287.07241.pdf (30.09.2015).
Campbell, J.: Der Heros in tausend Gestalten. Berlin [Insel Verlag] 2011.
Vogler, C.: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos. Frankfurt am Main [Zweitausendeins] 2010.
Links:
Über das BuchRaffael Schuppisser: Von der Simulation zum Text. Narrative Strukturen in Computerspielen. Zürich [Chronos] 2014, 160 Seiten, 31,- Euro.Empfohlene ZitierweiseRaffael Schuppisser: Von der Simulation zum Text. von Matuszkiewicz, Kai in rezensionen:kommunikation:medien, 5. Oktober 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18589