Christian Hißnauer, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hrsg.): Zwischen Serie und Werk

Einzelrezension
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Rezensiert von Andy Räder

Zwischen Serie und WerkEinzelrezension
Man kann nicht gerade behaupten, dass es an Studien über die ARD-Reihe Tatort mangelt. Dennoch schafft es der Sammelband von Christian Hißnauer, Stefan Scherer und Claudia Stockinger, ein Desiderat der Tatort-Forschung aufzugreifen und erstmals eine übergreifende Analyse jener traditionsreichen Krimireihe zu liefern, die hier als “Format […] einer Reihe von Serien“ (7) bezeichnet wird. “Wir gehen demnach davon aus, dass sich das Format Tatort nur dann angemessen beurteilen lässt, wenn man es zum einen auf die Einzellogik des öffentlich-rechtlichen Fernsehens im historischen Prozess bezieht und zum anderen die Qualitäts-, ja Kunstansprüche der Reihe ‘zwischen Serie und Werk‘ berücksichtigt.“ (8), so die Herausgeber in der Einleitung.

Sie benennen vier Defizite in der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Einerseits bestehe ein zu starker Fokus auf einzelne Aspekte, so dass “das Ganze bzw. die Gesamtvorstellung“ (11) deutlich in den Hintergrund rückt. Andererseits fehle die “gesellschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Reihe in der historischen Abfolge […], eingebettet in fernseh- und medienkulturgeschichtliche Entwicklungen“ (12) sowie eine “Reflexion der spezifischen Medialität und ästhetischen Qualitäten der Reihe zwischen Serienproduktion und Kunstanspruch“ (ebd.), so die Herausgeber. Abschließend sollen Fragen nach produktions- und rezeptionsästhetischen Qualitäten aufgeworfen werden.

Der Sammelband mit insgesamt 16 Beiträgen geht auf eine Tagung im Juni 2013 zurück, die im Rahmen des Teilprojektes Formen und Verfahren der Serialität in der ARD-Reihe Tatort der DFG-Forschergruppe Ästhetik und Praxis populärer Serialität in Göttingen stattfand. Parallel erschien eine Monografie mit dem Titel Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe Tatort im historischen Verlauf (Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014) über “das serienspezifische Verhältnis von Schema und Variation in der historischen Genese des Tatort“ (11). Beide Publikationen präsentieren Analyseergebnisse, wobei der Sammelband Lücken der Monografie schließen soll und vice versa.

Im ersten Teil des Bandes sind Beiträge zusammengefasst, die “mentalitäts- und gesellschaftsgeschichtliche Veränderungsprozesse“ (12) der Krimi-Reihe reflektieren. Thomas Weber beschreibt, wie sich durch das veränderte kommunikative Bedürfnis der Zuschauer in Form von gemeinschaftlicher Rezeption dramaturgische Konventionen sowie film- und fernsehästhetische Darstellungsweisen ändern. Carsten Heinze untersucht anhand der Rollentheorie die soziale Typisierung des Formats und zeigt, dass “der Tatort seine Figurenmodulation auf [dem] sozialen Alltagswissen aufbaut und ‘realistisch‘ in die Handlungskontexte einfließen lässt“ (62). Dagegen fragt Hendrik Buhl, wie die Themen-Tatorte “Gesellschaftspolitisches signifizieren“ (74). Am Beispiel der sich verändernden Charakterisierungen der Täterfiguren zeigt Joan Kristin Bleicher, dass sich an visuellen Merkmalen dieser Personengruppe gesellschaftliche Entwicklungen und Bezüge ablesen und die historische Weiterentwicklung der Täterprofile als “personalisierte Gesellschaftskritik“ (97) deuten lassen. Stephan Völlmicke beschreibt in seinem Beitrag wie sich die “Wechselbeziehungen zwischen massenmedialen Todesdarstellungen und gesellschaftlichen Kontexten“ (109) verändert haben. Anschließend stellt Rolf Parr den Gegenstand Auto “als multifunktionales Strukturelement“ unterschiedlicher Funktionen in der Krimireihe vor.

Der zweite Teil thematisiert die spezifische Logik des Tatort als Fernsehkrimi, an dem sich die föderalen Strukturen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zeigen. Zunächst beleuchtet Christian Hißnauer “die Frühgeschichte des serialisierten Fernsehkrimis“ (148) und die Entwicklung der Ermittlerfiguren. In einem Interview mit der SWR-Redakteurin Melanie Wolber, werden Einblicke in die Reaktionsarbeit gegeben und das gesellschaftsbildende Konzept des SWR-Tatort mit einer “visionäre[n]“ Kriminalkommissarin und “moderne[n] Gesellschaftsbilder[n]“ (241) vorgestellt. Das Verhältnis von Autoren und Rezipienten steht im Mittelpunkt des Beitrages von Regina F. Bendix und Christine Hämmerling. Sie untersuchen, weshalb beim Tatort wenig Bedarf an “Nähe zwischen Produzenten und Rezipienten“ (255) besteht. Dem Münster-Tatort als Raum exzessiver Selbstreflexion widmet sich Andreas Blödorn in seinem Aufsatz. Thomas Klein rekonstruiert den Thiel/Boerne-Tatort anschließend als hybride Form zwischen Drama und Komödie und analysiert, wie die veränderten Genrekonventionen eine neue serielle Funktion erhalten. Im letzten Beitrag des Kapitels betrachtet Tina Welke, wie der MDR-Tatort der Jahre 1992 bis 2007 “ostdeutsche Identität inszeniert“ (299).

Im abschließenden dritten Teil des Bandes werden Elemente der Tatort-Serialität untersucht. Hans Krah analysiert am Beispiel der 1990er Jahre die “unterschiedliche[n] Erzählkonzeptionen“ (322) zwischen Filmdramaturgie und Reihennarration. Während Moritz Baßler in seinen Überlegungen zur Langzeit-Serialität des Tatort eine Entwertung des Kriminalfalls als Narrativ feststellt, sucht Dennis Gräf nach Wertevermittlungsstrategien in den bayrischen Folgen der Reihe. Abschließend untersucht Julika Griem “Potentiale von Werkförmigkeit“ (388) des Tatorts im internationalen Vergleich.

Der Tagungsband versammelt verschiedene fernseh-, literatur- sowie sozialwissenschaftliche Perspektiven aus der Medien- und Kulturwissenschaft zum Werkcharakter des Tatort und seiner seriellen Struktur. Daneben bietet das Interview mit der Tatort-Redakteurin einen außeruniversitären Einblick in den Produktionsprozess der Reihe. Die von den Herausgebern benannte Offenheit des Tatort-Konzepts, die sie in der parallel erscheinenden Monografie als “heterogene Homogenität“ (Hißnauer/Scherer/Stockinger 2014:11) bezeichnen, trifft auch auf diesen Band zu. Die vielen unterschiedlichen Einzelaspekte sollen zwar ein einheitliches Gesamtbild ergeben. Jedoch fehlt dafür eine ausführliche, die Themen einordnende und verbindende Einleitung. Neben ausführlichen Zusammenfassungen der Artikel wäre eine inhaltliche und theoretische Rahmung der Einzelteile im Kontext des Gesamtkonzepts wünschenswert. Die beiden parallel erscheinenden Publikationen erschweren eine alleinige Lektüre des hier besprochenen Buches. Dennoch bietet der Sammelband eine fundierte und kenntnisreiche interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Phänomen Tatort.

Literatur:

  • Hißnauer, C.; Scherer S.; Stockinger, C.: Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe »Tatort« im historischen Verlauf. Paderborn [Fink Verlag] 2014.

Links:

Über das BuchChristian Hißnauer, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hrsg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im "Tatort". Bielefeld [transcript Verlag] 2014, 414 Seiten, 33,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseChristian Hißnauer, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hrsg.): Zwischen Serie und Werk. von Räder, Andy in rezensionen:kommunikation:medien, 30. September 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18543
Veröffentlicht unter Einzelrezension