Konrad Scherfer, Helmut Volpers (Hrsg.): Methoden der Webwissenschaft

Einzelrezension
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Rezensiert von Martin Welker

Methoden der WebwissenschaftEinzelrezension
Ein Band mit dem Titel Methoden der Webwissenschaft macht neugierig, insbesondere wenn er von deutschsprachigen Autoren herausgegeben wird. Es ist der zweite Band einer neuen Buchreihe, die sich speziell dem Thema “Webwissenschaft” verschrieben hat. Was ist das eigentlich?, fragt sich der Leser zunächst. Webwissenschaft ist die deutsche Übernahme des Begriffs “Web Science”, ein Terminus, den WWW-Erfinder Tim Berners-Lee geprägt hat. Die beiden Herausgeber, Professoren am Institut für Informationswissenschaft der Fachhochschule Köln, beziehen sich in ihrer Einführung (7ff.) ausdrücklich auf den in England geborenen Physiker und Internet-Pionier. Unterstrichen wird dies gestalterisch durch den schwarzen Einband, auf dem in grüner Schrift der erste Zeilenmodus-Broswer des CERN prangt, der Schweizer Großforschungseinrichtung, an der Berners-Lee wirkte.

Wegen dieser zentralen Bezugnahme möchte ich mich zunächst ganz kurz mit dem programmatischen Aufsatz “A Framework for Web Science” aus dem Jahre 2006 beschäftigen. Darin definieren Berners-Lee und seine Mitautoren Web Science etwas diffus als eine Kombination “of synthesis, analysis and governance” (Berners-Lee et al. 2006: 15). Web Science “aims to map how decentralised information structures can serve […] scientific, representational and communicational requirements” (dies.: 3). Gemeint sind insbesondere technische Funktionen, die es zu erforschen gelte. Dabei müssten “the essential aspects of identification, interaction and representation” identifiziert werden, “that make the Web work” (dies.: 11). Web Science ist also eine Art technische Informationswissenschaft. Was Berners-Lee daher umtreibt, sind technische Protokolle, Semantiken, Ontologien, Metadaten, Referenzierung, Topologien sowie Such- und Retrievalmodelle. Sozialwissenschaftliche Bezüge sind so gut wie nicht vorhanden, auch nicht im Literaturverzeichnis.

Das Positive der Web Science-Initiative von Berners-Lee ist allerdings die Erkenntnis, dass es zahlreiche unbearbeitete Forschungsfelder gibt, weil die Gesellschaft insgesamt durch das Internet rigoros verändert worden ist. Ob allerdings ein primär mathematisch-technischer Ansatz die besten Antworten auf drängende gesellschaftliche Probleme liefert, ist fraglich. Das Feld der Online-Forschung nähert sich internetspezifischen Forschungsfragen jedenfalls primär von der sozialwissenschaftlichen Seite. Online-Forschung hat in jahrelanger Arbeit ein Methodenset entwickelt, das sich am klassischen wissenschaftlichen Vorgehen orientiert, dieses aber um onlinerelevante Anforderungen erweitert. Das ist kein Big Bang wie bei Berners-Lee et al., sondern ein evolutionärer Weg.

So weit die kurze Analyse der Bezugsbasis. Nun zurück zu Scherfer und Volpers: Zwar beziehen Sie sich ganz strikt auf Berners-Lee, dennoch erweitern sie flugs dessen Ansatz um eine sozialwissenschaftliche Perspektive (9): “Im Fokus stehen technologische und mathematische Aspekte der Webentwicklung. Dennoch werden nachrangig auch geistes- und Sozialwissenschaftliche Perspektiven in den Blick gefasst; diese stehen in den hier vorgelegten Methoden der Webwissenschaft im Vordergrund.” (Hervorhebung M.W.)

Was “nachrangig” heißt, bleibt allerdings unklar. Scherfer und Volpers führen stattdessen einen weiteren Begriff ein, nämlich “Digital Methods”, und berufen sich dabei auf Rogers (2013). Analytisch fasslicher wird die Einführung in das Thema Webwissenschaft dadurch nicht. Warum die Herausgeber zudem die Online-Forschung als “lediglich instrumentell” (10) bezeichnen, bleibt ihr Geheimnis. Das Internet war für Online-Forscher bislang immer zweifach relevant – als Methode und als Gegenstand. Immerhin konzedieren die Herausgeber “partielle Überschneidungen” (ebd.) zwischen Webwissenschaft und Online-Forschung.

Zum Inhalt: Das Buch ist in vier Teile gegliedert, nämlich in Content Analyse, Web Usability und User Experience, Online-Nutzerforschung sowie Findability (ein etwas gewöhnungsbedürftiger Ausdruck). Die Abgrenzung, vor allem aber die Reihenfolge dieser vier Abschnitte bleibt ein wenig nebulös. Manchmal ist nicht ganz klar, warum eine Methode überhaupt aufgenommen wurde (so bei der Valenzmethode, Michael Burmester). Klar ist jedoch, dass die Beiträge überwiegend mit nicht-reaktiven Methoden arbeiten – das entspricht dem Paradigma von Berners Lee, der vor allem technische Messungen anregt.

In den Blick nehmen die Autoren vor allem praktische Anwendungsfelder wie das Monitoring, die Nutzungsmessung und die Produktprüfung. Die Beiträge selbst sind eine Mischung aus Einführungen und Erläuterungen und bilden teilweise gut lesbare Einstiege in die jeweilige Methode (Beispiel: Hoewner zu Social Media Metrics). Julia Neubarth und Christian Nuernbergk erläutern die Soziale Netzwerkanalyse, Lars Rinsdorf die quantitative Nutzungsforschung, Hamborg und Ollermann die Web Usability. Es wird viel erklärt, zur Übersicht tragen auch die zahlreichen Tabellen und Diagramme bei. Methodisch kritisch diskutiert (auch im Sinne von Methodenevaluationen) wird allerdings kaum. Die Autoren sind aber gewillt, auch Innovatives zu vermitteln – so wird von Scherfer ein “heuristischer Walkthrough für das Web” (121ff.) als Web-Usability-Methode präsentiert. Dessen Komponenten sind zwar nicht neu, aber die Kombination scheint immerhin innovativ.

Eine übergeordnete, aber zentrale Frage ist nun, ob sich durch die fortwährende Vernetzung und Digitalisierung der Gesellschaft die Verfahren und Methoden gesellschaftlicher Beobachtung grundlegend verändern: weg von reaktiven Methoden wie der Befragung, hin zu nicht-reaktiven, auf technischen Messungen basierenden Algorithmen. Der vorliegende Band von Scherfer und Volpers mag ein Indiz für diese Entwicklung sein. Dennoch sehen sich Scherfer und Volpers paradoxerweise nicht primär als Physiker und Informatiker, sondern als Sozialwissenschaftler. Das zeigt auch der erste Band ihrer neuen Reihe (Scherfer 2008), in dem sie ausgiebig den Medien- und Kommunikationsbegriff in Bezug auf das Internet diskutieren, eine Diskussion, welche die Online-Forschung bzw. die Medien- und Kommunikationswissenschaft schon in den 90er Jahren hinter sich gebracht hatte.

Fazit: Trotz der teilweisen unklaren Abgrenzung der Forschungsfelder und Disziplinen am Beginn des Buches, liefern Scherfer und Volpers einen beachtenswerten Beitrag zur Bereicherung und Weiterentwicklung internetbezogener Methoden. Für den nächsten Band (den dritten der Reihe) haben die Herausgeber kulturwissenschaftliche, also vermutlich qualitative Ansätze, angekündigt.

Nachzutragen bleibt: Es gibt inzwischen zwei Zeitschriften zum Thema Web Science, nämlich The Journal of Web Science und Foundations and Trends in Web Science. Die deutschen Vertreter in den Herausgeberboards (Dieter Fensel, Wolfgang Nejdl, Steffen Staab, Gerd Stumme) entstammen allesamt den Fachbereichen Informatik und Elektrotechnik.

Literatur:

  • Berners-Lee, W. Hall, J. A. Hendler, K. O’Hara, N. Shadbolt and D. J. Weitzner: A Framework for Web Science, 20 September 2006, Foundations and Trends in Web Science, 1/1, DOI: 10.1561/1800000001 1.
  • Rogers, R.: Digital Methods. Cambridge [MIT Press] 2013.
  • Scherfer, K. (Hrsg.): Webwissenschaft – eine Einführung. Berlin [Lit Verlag] 2008.

Links:

  1. 01.2014
Über das BuchKonrad Scherfer, Helmut Volpers (Hrsg.): Methoden der Webwissenschaft. Teil 1. Reihe: Schriftenreihe Webwissenschaft, Band 2. Münster [LIT Verlag] 2013, 280 Seiten, 19,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseKonrad Scherfer, Helmut Volpers (Hrsg.): Methoden der Webwissenschaft. von Welker, Martin in rezensionen:kommunikation:medien, 28. Mai 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/15584
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