Charles S. Peirce: The Logic of Interdisciplinarity

Einzelrezension
10816 Aufrufe

Rezensiert von Mark A. Halawa

peirce2009Einzelrezension
Charles Sanders Peirce (1839-1914) war einer der letzten Universalgelehrten. Er betätigte sich unter anderem als Lexikograph, Wissenschaftshistoriker, Spektroskopist, Chemiker und Ingenieur. Auf dem Gebiet der Biologie, der Physik und vor allem der Mathematik verfügte er über herausragende Kenntnisse. Zudem machte er sich als Geodät, als der er die meiste Zeit seines Berufslebens sein Geld verdiente, international einen Namen (vgl. Fisch 1982: 15). Zu größter Berühmtheit kam Peirce allerdings erst posthum durch sein Wirken als Philosoph, Logiker und Semiotiker: Als Begründer des Pragmatismus formulierte er eines der erfolgreichsten philosophischen Programme des 20. Jahrhunderts, zu dessen Vertretern (wenn auch bisweilen in einem von Peirce erheblich abweichenden Sinne) neben William James, John Dewey und George Herbert Mead auch Hilary Putnam, Richard Rorty oder Robert Brandom zählen. Darüber hinaus wird er gemeinsam mit dem Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure (1857-1913) als Vater der modernen Semiotik gewürdigt. Keine Einführung in die Semiotik kann es sich leisten, auf eine Erörterung der Peirce’schen Zeichentheorie zu verzichten. Ebenso undenkbar ist es, Peirces Namen in einem um Vollständigkeit bemühten Lexikon zur Geschichte der Philosophie zu übergehen. Kurzum: In der Geschichte des Denkens nimmt Charles Sanders Peirce einen bedeutenden Platz ein.

Die Anerkennung, die dem Peirce’schen Œuvre seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in großem Stil gezollt wird, steht mit dem äußerst geringen Ansehen, das Peirce über weite Strecken seines Lebens genossen hat, in deutlichem Widerspruch. Sieht man von einem kurzen Intermezzo an der Johns Hopkins Universität ab, wo er zwischen 1879 und 1884 als Dozent für Logik unterrichtete, gelang es Peirce niemals, eine dauerhafte Anstellung an einer Universität zu erlangen. Zwar galt Peirce schon früh als ein genialer Denker, dem – nicht zuletzt durch die Unterstützung seines Vaters Benjamin Peirce (1809-1880), einem der renommiertesten Mathematiker seiner Zeit und ein einflussreicher Harvard-Professor – eine große Zukunft vorausgesagt wurde. Dass jedoch alles ganz anders kam, hängt hauptsächlich damit zusammen, dass sich der gutbetuchte Professorenzögling immer wieder selbst im Weg gestanden hat: Peirce wusste um seine außergewöhnliche Begabung, was er seine Umgebung bisweilen derart unverblümt spüren ließ, dass er schon in jungen Jahren als überaus eitler und arroganter Zeitgenosse verschrien war. Zudem führte er ein ausgesprochen extravagantes Leben, das auf viele seiner Mitmenschen äußerst verstörend wirkte und oftmals nur deshalb zähneknirschend toleriert worden ist, weil die Peirces zu den angesehensten Familien der amerikanischen Ostküste gehörten. Als Peirce 1883 nur zwei Tage nach der Scheidung von seiner ersten Frau erneut den Bund der Ehe schloss, konnte ihm indes noch nicht einmal sein elitärer familiärer Hintergrund aus der Patsche helfen: Er verlor seine Stelle in Johns Hopkins und bekam auch außerhalb des universitären Betriebes kaum noch einen Fuß in die Tür. Auf einen Vater, der seine schützende Hand über seinen Sohn hält, konnte Peirce zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr setzen (vgl. Brent 1993).

Die vielen Rückschläge, die Peirce im Laufe seines Lebens verkraften musste, lassen sich allerdings nicht alleine mit Blick auf seinen schwierigen Charakter erklären. Verantwortlich für den ausbleibenden akademischen Erfolg war in ebenso starkem Maße die hohe Komplexität seines Denkens. Dass Peirce von vielen als extrem gescheiter Geist geachtet wie gefürchtet wurde, bedeutet noch lange nicht, dass ihm seine Freunde, Kollegen und Leser problemlos folgen konnten. Das genaue Gegenteil war der Fall: William James – Peirces wohl treuester Freund – fand den Argumentationsstil seines philosophischen Kameraden mitunter dermaßen unverständlich, dass er im Vorfeld einer Vorlesungsreihe, die er für Peirce organisieren konnte, inständig darum bat, „Deine Vorlesungen so unmathematisch [zu halten], wie es Dir möglich ist“ (zitiert nach Ketner/Putnam 2002: 44).

Warum Peirce für den Großteil seiner Zeitgenossen ein Rätsel blieb, lässt sich wunderbar in der von Elize Bisanz herausgegebenen Aufsatzsammlung The Logic of Interdisciplinarity nachvollziehen. Diese versammelt zum ersten Mal in einem Band sämtliche Texte, die Peirce zwischen 1891 und 1909 in der Zeitschrift The Monist veröffentlichte beziehungsweise für die Publikation in dieser vorsah. Dass der Monist-Reihe durch eine gesonderte Veröffentlichung besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, hängt nicht alleine damit zusammen, dass Bisanz einen wichtigen, in bisherigen Peirce-Editionen verstreut vorliegenden Textkorpus aus Peirces philosophischer Spätphase einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung stellen möchte. Vielmehr geht es der Herausgeberin darum, jene “genuine Interdisziplinarität des Peirceschen Denkens” (13) herauszustellen, die – wie Bisanz zu Recht feststellt – in den Monist-Texten besonders deutlich durchscheint.

Bisanz verspricht den Lesern ihres Vorworts gewiss nicht zu viel. Bestechend an den einzelnen Beiträgen der Monist-Reihe ist dabei aber weniger ihre thematische Vielseitigkeit, die sich in ähnlicher Form bereits in anderen Peirce-Editionen feststellen lässt (neben den Grundlagen des Pragmatismus erörtert Peirce ebenfalls allgemeine Fragen der Logik sowie wissenschaftstheoretische, religionsphilosophische oder metaphysische Problemkomplexe); faszinierend ist vielmehr das Ausmaß, in dem Peirce hier – stärker noch als in anderen Phasen seines Schaffens – seine Philosophie auf einem interdisziplinären Fundament baut.

Für diejenigen Leser, die mit Peirces Philosophie noch nicht vertraut sind, bringt dieser Umstand freilich zahlreiche Schwierigkeiten mit sich, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht merklich von denen seiner Zeitgenossen unterscheiden. Immer wieder unterbricht Peirce seine Ausführungen (etwa die über das Wesen des Denkens), um seine ohnehin schon komplizierte Argumentationsführung durch lange und nicht minder komplizierte mathematische Beispiele zu stärken. Ebenso häufig verweist er auf biologische, physikalische oder physiologische Zusammenhänge, um beispielsweise unter Beweis zu stellen, dass zwischen den Gesetzen der Logik und den Gesetzen der Natur ein interner Zusammenhang besteht.

Was damals wie heute auf den ersten Blick wie ein bunter (und vor allem: verwirrender) Themenmix erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ausgedehnte Spielwiese eines unermüdlichen und immer aufs Ganze abzielenden Geistes, dessen Genialität vor allem darin bestanden hat, zu beeindruckenden interdisziplinären Verknüpfungsleistungen in der Lage gewesen zu sein. Peirce war nicht einfach nur ein Mann, der sich für eine Vielzahl von Disziplinen interessierte; er war ein Denker, der es verstand, sämtliche Themengebiete, die ihn faszinieren, sinnvoll miteinander zu verbinden, um im Anschluss daran ein weitverzweigtes philosophisches System vorweisen zu können, das – ganz in der Tradition Kants stehend – über eine klar umrissene “Architektonik” verfügt (58-69). Das interdisziplinäre Forschungsideal, das in der heutigen Wissenschaftslandschaft oft und gerne gefordert, in der Praxis hingegen nur selten oder nur überaus halbherzig in die Tat umgesetzt wird, findet sich in Peirces Monist-Arbeiten ferner in einer fast schon idealtypischen Weise vorgelebt.

Was in der Monist-Reihe pointiert zur Darstellung gebracht wird, lässt sich zu großen Teilen biographisch zurückverfolgen. Peirce wuchs – wie er gerne betonte – “in einem Kreis von Physikern und Naturwissenschaftlern” (Peirce 1904: 64) auf. Hinzu kommt, dass er nach einer Ausbildung zum Chemiker über weite Strecken seines Berufslebens selbst an zahlreichen naturwissenschaftlichen Experimenten teilgenommen hat. In einer für seine Zeit überaus unüblichen Weise wollte er diese Erfahrungen nicht von seinen philosophischen Interessen geschieden wissen. Ganz im Gegenteil: Stets war er darum bemüht, das Instrumentarium der exakten Wissenschaften in die Philosophie zu integrieren. So wie ein Chemiker “den Verstand mit ins Laboratorium” (Peirce 1877: 295) nimmt, soll – so eine der wesentlichsten Prämissen des Peirce’schen Pragmatismus – der Logiker das Laboratorium mit der Vernunft vermählen. Das berühmteste Resultat dieser Zusammenführung ist die so genannte pragmatische Maxime, die zur Klärung eines Begriffs den von der wissenschaftlichen Forschungsmethodik entlehnten Ratschlag gibt, sich im Rahmen eines Gedankenexperiments sämtliche “denkbaren Wirkungen” vorzustellen, die eben jener Begriff “denkbarerweise” hervorbringen würde (vgl. Peirce 1878: 339).

Der wohl größte Wert der Monist-Reihe besteht nun darin, dass in ihr die logisch-semiotische Reflexion auf das Wesen des Denkens und Erkennens insbesondere um zwei Begriffe erweitert wird, die auch über den Bereich der Logik hinaus universale Gültigkeit besitzen sollen. Die Rede ist vom Konzept des Synechismus einerseits und dem des Tychismus andererseits. Während Peirce mit dem zuerst genannten Begriff zum Ausdruck bringen möchte, dass alles Denken kontinuierlich auf eine Zunahme von Gesetzmäßigkeit hinarbeitet, verbindet er mit dem zuletzt genannten Begriff das Anliegen, auf das Element des Zufalls aufmerksam zu machen, das einer endgültigen Erfassung des Denkens durch das Streben nach Kontinuität entgegenarbeitet. Nichts lässt sich in seiner Totalität begrifflich erfassen, weil ein evolutionäres Zufallsprinzip den epistemologischen Erfahrungsraum des Menschen bevölkert. Da das gesamte Universum im Zuge des Tychismus dem Heraklitischen Gesetz des Werdens untersteht, kann das synechistische Kontinuitätsprinzip niemals an ein Ende gelangen.

Von besonderem Interesse sind diese Ausführungen unter anderem deshalb, weil sie dabei behilflich sein können, die Einwände derjenigen Kritiker zu entkräften, die der Semiotik eine prinzipielle Rationalitätsversessenheit vorwerfen (vgl. Gumbrecht 2004, Mersch 2002). Dass die Semiose (das heißt: der Prozess der erkenntnisstiftenden Zeichenbildung) kontinuierlich fortgesetzt wird, hängt nicht – wie behauptet wird – mit einem radikalen Bestimmungsstreben zusammen, welches dem Zeichenbegriff inhärent ist; vielmehr trägt das ebenso berühmte wie viel gescholtene Prinzip der unendlichen Semiose dem Umstand Rechnung, dass die zeichenvermittelte Ordnung der Dinge durch die stetige Evolution des epistemologischen Erfahrungsfeldes fortwährend korrigiert und reformuliert werden muss. Genau aus diesem Grund formulierte Peirce im Rahmen der Cambridge Conferences – jenem Vorlesungszyklus, den William James so unmathematisch wie möglich gehalten sehen wollte – mit der Ersten Regel der Logik (“Behindere nicht den Gang der Forschung” [Peirce 2002: 241]) einen Grundsatz, der für Philosophen wie Naturwissenschaftler gleichermaßen zu gelten hat. Ein Wissenschaftler, der akzeptiert, dass nicht nur der Geist, sondern auch die Welt stets im Fluss ist, wird – so hofft Peirce – davon absehen, hartnäckig an etablierten Theorien festzuhalten, und sein Denken für neue Erklärungssätze öffnen. Wer die Geduld aufbringt, sich durch The Logic of Interdisciplinarity durchzuarbeiten, kann beobachten, wie Peirce diesen wissenschaftstheoretischen Imperativ in einem beeindruckend großen interdisziplinären Rahmen ausbreitet.

Schade nur, dass Elize Bisanz der Monist-Reihe lediglich ein Personenregister, nicht aber einen Sachindex beigefügt hat, sodass das Auffinden von Passagen, die sich mit einschlägigen Termini (Synechismus, Tychismus, Agapismus usw.) befassen, erheblich erschwert wird. Ebenso bedauerlich ist, dass die Herausgeberin die “pulsierende […] Aktualität”, die das Peirce’sche Denken insbesondere “in der bildwissenschaftlichen, der kulturwissenschaftlichen Forschung, der Forschung der Kognition und der Logik” (13) fraglos besitzt, leidglich konstatiert, nicht aber ausführlich darlegt. Größere Klarheit vermitteln demgegenüber die einleitenden Ausführungen Kenneth Laine Ketners, der am Institute for Studies in Pragmaticism der Texas Tech University tätig ist und zu den profiliertesten Kennern der Peirce’schen Philosophie zählt.

Erfreulich ist, dass die Herausgeberin zahlreiche biographische und bibliographische Informationen in Form von kurzen Anmerkungen in den originalen Text eingefügt hat. The Logic of Interdisciplinarity wird damit den Ansprüchen einer kritischen Edition im Großen und Ganzen gerecht. Dass der Band als Studienausgabe genutzt und in Peirce-Seminaren reihenweise auf den Tischen liegen wird, darf allerdings bezweifelt werden. Auch wenn die Lektüre der Monist-Reihe nicht nur Studierenden der Philosophie wärmstens empfohlen werden kann, ist zu erwarten, dass all jene, die einen ersten Einblick in Peirces Philosophie erhalten möchten, zu preisgünstigeren Peirce-Editionen greifen werden.

Literatur:

  • Brent, J.: Charles Sanders Peirce: a life. Bloomington, Indianapolis [Indiana University Press] 1993.
  • Fisch, Max: “Vorwort”. In: Sebeok, T.; Umiker-Sebeok, J.: “Du kennst meine Methode.” Charles Sanders Peirce und Sherlock Holmes. Aus dem Amerikanischen von Achim Eschbach. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 1982, S. 15-23.
  • Gumbrecht, H.U.: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 2004.
  • Ketner, K.L.; Putnam, H.: “Einleitung: Konsequenzen der Mathematik”. In: Peirce, C.S.: Das Denken und die Logik des Universums. Die Vorlesungen der Cambridge Conferences von 1898. Mit einem Anhang unveröffentlichter Manuskripte. Herausgegeben von Kenneth Laine Ketner. Einleitung und Kommentar von Hilary Putnam und Kenneth Laine Ketner. Deutsche Übersetzung und Herausgabe des Anhangs von Helmut Pape. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 2002, S. 16-78.
  • Mersch, D.: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München [Wilhelm Fink Verlag] 2002.
  • Peirce, C.S.: “Die Festlegung einer Überzeugung (1877)”. In: ders.: Schriften I: Zur Entstehung des Pragmatismus. Mit einer Einführung herausgegeben von Karl-Otto Apel. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 1967, S. 293-325.
  • Peirce, C.S.: “Wie unsere Ideen zu klären sind (1878)”. In: ders.: Schriften I: Zur Entstehung des Pragmatismus. Mit einer Einführung herausgegeben von Karl-Otto Apel. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 1967, S. 326-358.
  • Peirce, C.S.: “Charles S. Peirce. Eine intellektuelle Autobiographie (1904)”. In: ders.: Semiotische Schriften, Band 1. Herausgegeben und übersetzt von Christian J.W. Kloesel und Helmut Pape. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 2000, S. 64-75.
  • Peirce, C.S.: Das Denken und die Logik des Universums. Die Vorlesungen der Cambridge Conferences von 1898. Mit einem Anhang unveröffentlichter Manuskripte. Herausgegeben von Kenneth Laine Ketner. Einleitung und Kommentar von Hilary Putnam und Kenneth Laine Ketner. Deutsche Übersetzung und Herausgabe des Anhangs von Helmut Pape. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 2002.

Links:

Über das BuchCharles S. Peirce: The Logic of Interdisciplinarity. The Monist-Series. Herausgegeben von Elize Bisanz. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 20. Berlin [Akademie Verlag] 2009, 455 Seiten, 59,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseCharles S. Peirce: The Logic of Interdisciplinarity. von Halawa, Mark A. in rezensionen:kommunikation:medien, 13. November 2009, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/1490
Getagged mit: , , , , , , , ,
Veröffentlicht unter Einzelrezension
Ein Kommentar auf “Charles S. Peirce: The Logic of Interdisciplinarity
  1. Andreea Tribel sagt:

    Elize Bisanz verbeugt sich mit ihrer mehrjährigen Arbeit am MONIST vor dem Werk Peirces.
    Die Auseinandersetzung mit diesem Werk muss natürlich getrennt erfolgen und kann nicht mit einem Vorwort abgefertigt werden. Durch ihre Arbeit schafft sie mit THE MONIST die Basis für ein korrektes Verständnis Peirces (siehe pragmaticism – pragmatism).
    Ein Grundlagenwerk für jeden, der sich ernsthaft mit Peirce beschäftigt.