Rezensiert von Kurt Koszyk
Zu Beginn seiner “interdisziplinären Arbeit” legt Thomas Birkner ausführlich sein kommunikationswissenschaftliches Instrumentarium offen. Dabei entwickelt er die erkenntnisleitenden Fragestellungen nach dem gesellschaftlichen Sinnzusammenhang, in welchem sich Journalismus entwickeln kann; dem Leitfaden durch Unterteilung von Institutionen, Aussagen und Akteuren; den epochenübergreifenden gesellschaftlichen Dimensionen und dem von Max Weber 1910 vergebens angeregten empirischen Forschungsprogramm (Presseenquete), an das Arnulf Kutsch 1988 erinnerte.Die von Siegfried Weischenberg betreute Hamburger Dissertation (2010) wird vom Verfasser, der sich der systemtheoretischen Konstruktion von Journalismus verpflichtet zeigt, in vier Phasen gegliedert: Genese (1605-1848), Formierung als Teil des politischen Systems (1849-73), Ausdifferenzierung von der permanenten Selbstbeobachtung (1874-1900), Durchbruch des modernen Journalismus (1900 – 1914).
Im Einleitungskapitel kann sich der Leser über den Forschungsstand und über Rahmenbedingungen und Charakteristika des “modernen” Journalismus informieren. Die Auswertung zeitgenössischer Praktikerliteratur belegt, dass sich die Aufgliederung der Darstellungsformen und der Ressorts mit ihren Folgen für den Beruf um 1900 “weitestgehend durchgesetzt hatte”.
Birkner lässt die Arbeit 1914 enden, weil der Erste Weltkrieg den Beginn des “modernen” Journalismus markiere. Die zwischen 1890 und 1910 datierte Zäsur kennzeichne Umbrüche von einer bis dahin ungewöhnlichen Dimension. Mit der nach der Bismarck-Ära sich durchsetzenden “relativen Pressefreiheit” begannen die Medien der Zeit gesellschaftliche Aktionen dem Urteil der Öffentlichkeit auszuliefern. Der Journalismus sei zum “integralen Bestandteil” der “Entfesselung der Massenkommunikation” mit ihren manipulativen Elementen und Grenzen geworden, die bereits in der napoleonischen und der Metternich-Ära als Zensur und strukturelle Eingriffe zu beobachten sind.
An den Gründervätern der frühen Nachrichtendrucke vermisst Birkner das journalistische Auszeichnende: Auswahl, thematische Vielfalt, Ressortstruktur und redaktionelle Bearbeitung. Dabei scheine die Perspektive der Formierungsphase deutlich durch. Das alles entwickelte sich je nach technischen Möglichkeiten und Zugriff der Rezipienten bedarfsgerecht.
Damit erklärt sich auch der analog folgende Durchblick der Forschung von der Sammlung der Presseprodukte über deren Inhalte bis zu den potentiellen Empfängern (1850 fast 34 Mio.; 1871 schon 41 Mio.) und neuerdings zur Digitalisierung der journalistischen Praxis, wie sie in dem Beitrag von Stephan Weichert in der Neuen Züricher Zeitung vom 3. April 2012 (Wie die Computertechnik den Journalismus verändert) beschrieben wird.
Der lange Weg des Journalismus über fünf Jahrhunderte wird von Birkner, nicht zuletzt anhand der vorliegenden Fachliteratur, adäquat dargestellt. Dabei gelingen ihm über Jörg Requate (1995) hinaus umfassende Einsichten, wie man sie von den Ergebnissen einer Dissertation erwarten muss.
Als Kernsatz formuliert der Autor: “Für die Entstehung des modernen Journalismus war vor allem der viel dichtere und komplexere Kommunikationsraum, wie er nun vornehmlich in den wachsenden Großstädten entstand, von entscheidender Bedeutung” (133). Birkner ist überzeugt, dass erst das Wissen um die Geschichte des Journalismus “valide Aussagen über seine Zukunft” ermögliche. Sein Buch kann künftig der Forschung als theoretische Wegweisung dienen.
Diese Rezension erschien als Erstveröffentlichung in Communicatio Socialis, 45. Jg., H. 2, S. 208f.
Links:
Über das BuchThomas Birkner: Das Selbstgespräch der Zeit. Die Geschichte des Journalismus in Deutschland 1605 - 1914. Reihe: Öffentlichkeit und Geschichte, Band 4. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2012, 400 Seiten, 30,- Euro.Empfohlene ZitierweiseThomas Birkner: Das Selbstgespräch der Zeit. von Koszyk, Kurt in rezensionen:kommunikation:medien, 24. April 2013, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/12263