Michael Meyen, Claudia Riesmeyer: Diktatur des Publikums

Einzelrezension
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Rezensiert von Johannes Raabe

Einzelrezension
Michael Meyen, in der Vergangenheit vor allem mit Studien zu den DDR-Medien, zur Mediennutzung und mit Veröffentlichungen zur Geschichte der Disziplin an die Fachöffentlichkeit getreten, hat sich in den letzten Jahren dem Feld der Journalismusforschung zugewandt und 2009 zwei Journalistenstudien vorgelegt: gemeinsam mit Nina Springer eine Untersuchung über freie Journalisten in Deutschland (siehe r:k:m-Rezension von Siegfried Weischenberg vom September 2009) und kurz darauf mit seiner Mitarbeiterin Claudia Riesmeyer die hier angezeigte Veröffentlichung einer Untersuchung über Journalisten in Deutschland. Ausgangspunkt der Studie ist eine knappe, pauschalkritische Auseinandersetzung mit klassischen Arbeiten der Journalismusforschung von Kepplinger, Köcher und Donsbach einerseits, Weischenberg und Mitarbeitern andererseits. Sie dient der Legitimation des eigenen Vorhabens und der Begründung für ein alternatives methodisches Vorgehen.

Und in der Tat: Will man wie Meyen und Riesmeyer Genaueres über Herkunft, Ausbildung und Karriere von Journalisten erfahren, über Arbeitsbedingungen und Berufsalltag, das Klima unter Kollegen sowie “über das, was ihnen wichtig im Leben ist und was sie im Beruf erreichen wollen” (17), dann ist es sinnvoll auf quantitative Erhebungen zu verzichten und die erforderlichen Daten mittels ausführlicherer Interviews zutage zu fördern – zumal Meyen aufgrund früherer Arbeiten mit biographischen Leitfadengesprächen über reichlich Interview-Erfahrung verfügt. Mit einem solchen eher qualitativen Vorgehen korrespondiert das von den Autoren propagierte Auswahlverfahren nach dem Prinzip der theoretischen Sättigung (49ff.), das für die Journalismusforschung eine brauchbare Alternative zu Zufallsstichproben bildet, zumal wenn keine ausreichenden Kenntnisse über die Grundgesamtheit vorliegen.

Doch die Studie will mehr: Unter Rekurs auf die Theoriestücke Feld, Kapital und Habitus aus der Soziologie Pierre Bourdieus soll das journalistische Feld in Deutschland und die Logik des Feldes (bzw. seiner Unterfelder) untersucht werden. Das schließt Fragen nach den Machtpolen und Hierarchien im Feld und nach dessen Autonomie mit ein. Hinsichtlich der Journalisten dient das Konzept des Habitus als einem erfahrungsgenerierten und zugleich praxisgenerierenden Dispositionssystem der Akteure (opus operatum und modus operandi) der Bestimmung ihrer spezifischen Wahrnehmung des Feldes (und der eigenen Position darin) sowie ihres praktischen Sinns – was in den Interviews herausgearbeitet werden soll. Zudem habe der Rekurs auf Bourdieu den Vorteil, dass die eigene “Untersuchung […] in einer der großen, systematischen Gesellschaftstheorien verortet [wird]” (28).

Von einer gesellschaftstheoretischen Fundierung der Arbeit kann freilich keine Rede sein; es bleibt beim zitierten Verweis. Feld-, Kapital- und Habitus-Konzept werden von den Autoren als Heuristik für das eigene Forschungsvorhaben genutzt, der Soziologie Bourdieus gerecht werden sie dabei nicht. Das gilt nicht nur für den Begriff der Dispositionen, der praktische Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata meint, hier aber als “Geschlecht”, “Alter”, “Körpergröße” und “Aussehen” [!] missverstanden (45) und in der Erhebung im Teil der geschlossenen Kategorien abgefragt wird (63).

Auch warnt Bourdieu beim Habitus-Konzept vor einer Trennung von opus operatum und modus operandi, die hier zur Grundlage der Untersuchungsanlage wird (44f.). Und wenn man die professionelle Orientierung von Journalisten an Lesern, Hörern, Zuschauern (114ff.) und die Bedeutung von Informanten aus dem politischen Feld (144) für einen Ausweis mangelnder Autonomie des Feldes hält, hat das mit der Feld-Konzeption Bourdieus nichts zu tun – besteht doch die Autonomie des journalistischen Feldes darin, solche Informationen nach journalistisch-redaktionellen und nicht etwa nach politischen Kriterien auszuwählen und aufzubereiten. Auch erscheint es allzu pragmatisch, bei der Auswahl der Befragten Bourdieus Kriterium der Zugehörigkeit zum Feld (Interesse und Involviertsein hinsichtlich der Einsätze, um die es im jeweiligen Feld geht) gleichzusetzen mit der Bereitschaft, “sich zum Arbeitsalltag und zum Selbstverständnis von Journalisten befragen” zu lassen (52).

Ähnlich pragmatisch wirkt auch die Umsetzung des Auswahlverfahrens, wenn man liest, dass ein Sportressortleiter “nur deshalb interviewt wurde, weil eine Studentin das Protokoll für einen Seminarschein brauchte” (51), dass Journalisten während des Interviews merkten, dass sie für die Studie schon einmal befragt worden waren (48f.) und dass drei Jahre nach den ersten Befragungen zusätzlich Teilstudien zu investigativen Reportern, Israel-, China- und Parlamentskorrespondenten u.a. hinzukamen, weil Studierende noch Themen für Haus- oder Abschlussarbeiten brauchten, so dass “(meist studentische) Interviewer” bzw. “rund 60 Studierende” Daten zu der Studie erhoben haben (55, 61f.). Dabei erfolgte die Interviewer-Schulung mal in einem Vorbereitungsseminar zu der Studie, mal in Methodenübungen, mal im Examenskolloquium.

Meyen und Riesmeyer sprechen von 501 “Tiefeninterviews” – ein anspruchsvolles qualitatives Erhebungsverfahren, mit dem sich latente, auch der Alltagsreflexion der Befragten unzugängliche  Tiefenstrukturen ermitteln lassen und das für die Rekonstruktion des praktischen Sinns journalistischer Akteure und der impliziten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata ihrer Habitus geeignet wäre. Nur handelt es sich hier nicht um Tiefeninterviews, sondern um teilstrukturierte Leitfadengespräche, und die Durchführung in der genannten Zahl wäre nicht nur vom Aufwand her praktisch kaum zu bewältigen, sondern widerspräche auch der Logik der qualitativen Forschungsmethode. Wichtiger als hohe Fallzahlen wären allemal eine theoriegeleitete und methodisch kontrollierte Aufbereitung und Interpretation der Daten gewesen, über die man als Leser zudem gern mehr erfahren hätte.

Stattdessen erhält man eine flüssig geschriebene und durchaus mit Gewinn zu lesende Deskription der Antworten zu Berufs- und Karriereerfahrungen, zu Arbeitsalltag und Selbstverständnis von Journalisten in verschiedenen Ressorts und unterschiedlichen Teilfeldern des Journalismus; durchsetzt mit oft aufschlussreichen, mitunter witzigen Zitaten aus den Interviews. Dass solche qualitativen Studien fast unvermeidlich in entsprechende Typenbildungen münden, ist nicht weiter schlimm; dass diese Typenbildung aufgrund einer falsch gedeuteten Publikumsorientierung (siehe weiter unten) wenig überzeugt, dagegen schade.

Zentrales Ergebnis der Untersuchung: Weder “angepasste Außenseiter” (Kepplinger), politisch eher linke “Missionare”  (Köcher) oder “konservative Stimmungsmacher” (Hachmeister) noch “Alpha-Journalisten” (Weichert/Zabel), “Wichtigtuer” (Bruns) oder bloße “Souffleure” (Weischenberg) seien kennzeichnend für den Journalismus in Deutschland, sondern – infolge eines durch Ökonomisierung und Digitalisierung hervorgerufenen “Professionalisierungsschubs” – “Informationsprofis, die ihr Handwerk beherrschen und die Bedürfnisse des Publikums zum zentralen Maßstab ihrer Arbeit gemacht haben” (253f.).

Wer eine solche Diagnose akzeptiert, muss der Argumentation von der “Diktatur des Publikums” noch lange nicht folgen. Im Gegenteil. Dieses Schlagwort, das die gesamte Abhandlung durchzieht, ist nicht einfach arg überspitzt, sondern oft falsch und mitunter ärgerlich: Man muss wahrlich kein eingefleischter Systemtheoretiker sein, um den Unterschied zwischen der (Autonomie stärkenden) Differenz von Selbst- und Fremdbeobachtung einerseits und Fremdeinflüssen andererseits zu kennen – oder zumindest die problemlösende Funktion der Publikumsbeobachtung für den Journalismus. Haben nicht Ralf Hohlfelds Forschungsarbeiten bereits vor Jahren Journalisten eine weitgehende Akzeptanz der Publikumsforschung und prinzipielle Aufgeschlossenheit und Interesse gegenüber ihren Publika bescheinigt? Mit Fremdbestimmung oder gar Diktat hat das erstmal nichts zu tun. Subsumiert wird unter dem Schlagwort dann aber sogar die rein ökonomisch motivierte Quotenfixierung: Ökonomie-Diktat = Publikums-Diktatur? Was haben Leser für ein Interesse an Auflagen, was Hörer und Zuschauer an Quoten?

Noch bedenklicher wird diese Gleichsetzung, wenn sie mit den Worten kommentiert wird, dies sei nur dann “ein Problem […], wenn man sich über die Kaufentscheidungen und Qualitätsurteile des Publikums erhaben fühlt und […] besser zu wissen glaubt, welche Medienangebote und welchen Journalismus” unsere Gesellschaft brauche (14). Solche Formulierungen erinnern an ungebrochen affirmative Medienbewertungen aus der Blütezeit des Uses-and-Gratifications-Approach in den 1970er Jahren in den USA. Verwundert reibt sich der Leser die Augen. Hat man die Autoren komplett missverstanden? War es gar nicht so gemeint? Bis man zum Schlusssatz der Abhandlung kommt. Dort heißt es: Man stelle sich doch “einfach das Gegenstück zu einer ‚Diktatur des Publikums‘ vor: einen Journalismus, der auf Schnelligkeit, permanente Kontrolle und die Weisheit der Vielen pfeift und an den Bedürfnissen der Nutzer vorbeischreibt und -sendet” (256). Pardon, aber eine solche Logik ist, wie wenn man Glotz und Langenbucher unterstellen würde, sie hätten vor vierzig Jahren “Der missachtete Leser” als ein Plädoyer zur Schwächung der Autonomie des Journalismus geschrieben.

Eine Nebenbemerkung zum Schluss: Es gibt gute Gründe (zumal in wissenschaftlichen Publikationen) mit der Verwendung des Begriffs der Diktatur vorsichtig umzugehen – nicht zuletzt angesichts der historischen Erfahrungen Deutschlands im vergangenen Jahrhundert.

Links

Über das BuchMichael Meyen, Claudia Riesmeyer: Diktatur des Publikums. Journalisten in Deutschland. Konstanz [UVK] 2009, 270 Seiten, 29,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseMichael Meyen, Claudia Riesmeyer: Diktatur des Publikums. von Raabe, Johannes in rezensionen:kommunikation:medien, 10. Februar 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/831
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