Ada Bieber, Stefan Greif, Günter Helmes (Hrsg.): Angeschwemmt – Fortgeschrieben

Einzelrezension
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Rezensiert von Mara Stuhlfauth

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Angeschwemmt – Fortgeschrieben, der Titel des 2009 bei Königshausen & Neumann erschienenen Sammelbandes zu Robinsonaden verdeutlicht auf geschickte Weise das Programm der Herausgeber. Sowohl das erste Wort des Titels als auch die Flaschenpost- fotographie auf dem Buchcover symbolisieren die Grundvoraussetzung der Gattung Robinsonade: Schiffsbrüchige werden auf einer einsamen Insel “angeschwemmt” und müssen sich, der erlernten kulturellen Gewohnheiten fern, neu organisieren, um ihr Überleben zu gewährleisten. Der englische Schriftsteller Daniel Defoe war der erste, der mit diesem Stoff Weltruhm erlangte. Dementsprechend stellt sein 1719 erschienener Roman Robinson Crusoe den Ausgangspunkt des Sammelbandes dar. Ziel der drei Herausgeber und Germanisten Ada Bieber, Stefan Greif und Günter Helmes ist auf 267 Seiten zu zeigen, inwiefern die Erfolgsgeschichte der Robinson-Figur auch im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert “fortgeschrieben” wurde. Die insgesamt 13 stringent argumentierenden Aufsätze umspannen ein breites Spektrum an sowohl literatur- als auch kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Robinsonstoff.

Dabei ist besonders hervorzuheben, dass nicht nur bekannte Werke wie William Goldings The Lord of the Flies oder Nobelpreisträger wie J.M. Coetzee mit seinem Robinsonroman Mr. Cruso, Mrs. Barton & Mr. Foe besprochen werden, sondern auch weniger häufig diskutierte Texte wie Michel Tourniers Freitag oder Das verlorene Lächeln Robinsons. Entsprechend der weit gefassten literaturwissenschaftlichen Beiträge reicht auch die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung von einem Filmskript Brechts über Gattungen wie Hör- und Kinderbücher bis zu bekannten Kinofilmen und TV-Produktionen der Unterhaltungsindustrie. Diese Bandbreite des Sammelbandes zeigt die Omnipräsenz und Beliebtheit des Robinsonstoffs in der westlichen Kulturlandschaft. Angesichts dieses Befundes mag es überraschen, dass der angelsächsischen Literaturwissenschaft eine zur deutschen ‘Robinsonade’ äquivalente eigenständige Gattungsbezeichnung fehlt und nur von Sammelbezeichnungen wie ‘Cast away story’ bzw. ‘Desert Island Fiction’ die Rede ist, wie der Beitrag von Tina Deist u. a. belegt.

Trotz des weiten Spektrums des Sammelbandes stehen die einzelnen Beiträge durch die jeweilige Rückbindung auf den zugrunde liegenden Prätext Defoes in einem interessanten Spannungsverhältnis zueinander. Die Beiträge zeigen, dass die meisten Adaptionen auf der inhaltlichen Ebene weitestgehend dem Prätext folgen, sich aber in der Interpretation des Umgangs mit Freitag oder den anderen Gestrandeten die Wandlung der Epochen und Wertesysteme ablesen lässt. Kann Defoes Robinsonade als Plädoyer für ein bürgerliches Lebensmodell und Freitags Erziehung als Kolonialisierungsauftrag unter alttestamentarischen Vorzeichen gelesen werden, zeigen die moderneren Adaptionen, wie die Zivilisations- und Fortschrittsmodelle des 19. und 20. Jahrhunderts in der Isolation von der Herkunftsgesellschaft ihre Gültigkeit verlieren.

So wirkt Defoes Robinson auf Günter Helmes nach seiner Auseinandersetzung mit Bertolt Brechts und Alfred Bronnens Filmfabel Robinsonade auf Assuncion geradezu wie ein “Eunuch” (32), der ausschließlich von domestizierbaren Emotionen wie Furcht, Wut und Trauer heimgesucht wird, den aber keine erotischen Bedürfnisse plagen. Für die drei Hauptcharaktere des Filmskripts – zwei Männer und eine Frau – wird das Inselexil zur Projektionsfläche heimlicher Lüste. Der Frömmigkeit von Defoes Robinsonfigur wird der Kampf der inneren menschlichen Natur zwischen Rationalität und Sinnlichkeit entgegengesetzt.

Sowohl die Auseinandersetzung mit Caleb Deschanels Film Crusoe als auch mit Coetzees Mr. Cruso, Mrs. Barton & Mr. Foe zeigen dagegen postkoloniale Robinsonaden, in denen die Perspektive Freitags eingenommen wird, der trotz Lernwilligkeit den westlichen Werten ein gesundes Misstrauen entgegenbringt.

Jana Mikota geht in ihrem Beitrag zu den drei Autorinnen Lisa Tetzner, Mira Lobe und Alex Wedding der Frage nach, wie das das Robinsonmotiv in der Kinder- und Jugendbuchliteratur des Exils verarbeitet wird und wie sich dabei das politische Engagement im NS-Exil auf das Robinsonthema auswirkt. Dabei wird deutlich, dass sich gerade die Robinsonade, die schon seit Rousseau Teil der Lesepädagogik ist, anbietet in der Utopie der Abgeschiedenheit eine bessere Gesellschaftsform zu entwerfen. Hierbei spielt das Wertesystem der Autorinnen eine große Rolle: Während Lisa Tetzner und Mira Lobe als Gegenbild zum Nationalsozialismus ein demokratisches Miteinander als Ideal präsentieren, zeichnet Alex Wedding in Das Eismeer ruft ein Plädoyer für den Kommunismus.

Diese einzelnen inhaltlichen Ausblicke zeigen, wie fruchtbar und weitgefächert die deutlich formulierten Thesen und Untersuchungsergebnisse dieses gelungenen Sammelbandes sind. Einzig ein Beitrag zu einer literarischen Adaption des 21. Jahrhunderts, wie zum Beispiel von Thomas Glavinic Die Arbeit der Nacht oder von Jürgen Domian Der Tag an dem die Sonne verschwand, wäre noch wünschenswert gewesen.

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Über das BuchAda Bieber; Stefan Greif; Günter Helmes (Hrsg.): Angeschwemmt – Fortgeschrieben. Robinsonaden im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert. Würzburg [Königshausen & Neumann] 2009, 268 Seiten, 29,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseAda Bieber, Stefan Greif, Günter Helmes (Hrsg.): Angeschwemmt – Fortgeschrieben. von Stuhlfauth, Mara in rezensionen:kommunikation:medien, 25. Februar 2012, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/8152
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