Rezensiert von Harald Bader
Der Titel dieses Buches ist zunächst irreführend. Wenn man in der Nachkriegszeit von “Ostdeutschen” sprach, waren damit (in den westlichen Zonen/der Bundesrepublik) die geflohenen und vertriebenen Pommern, Ostpreußen und Schlesier (pars pro toto) gemeint. Hier geht es um die Bewohner der SBZ/DDR. Satjukow untersucht den Umgang von Sowjets und DDR-Bürgern mit der Last des Zweiten Weltkriegs, der in Osteuropa unfassbar grausam gewesen war, was anzuerkennen die Bundesdeutschen lange verweigerten. Die Scham über den Massenmord an den Juden hat lange verdrängt, was Deutsche den slawischen Völkern angetan haben, Kalter Krieg und Wehrmachtsromantik taten ihr Übriges: Der alte Feind war der neue. In der DDR sollte der alte Feind der neue Freund werden. Allerdings nicht auf Augenhöhe, die Machtfrage war in Potsdam geklärt worden.Gegenstände der materialgesättigten Studie sind Überlegungen zu Schuld und Sühne, Totenkult, Schulunterricht (speziell zum ungeliebten Pflichtfach Russisch) und Medien (Presse, Film, Fernsehen). Forschungsfrage ist dabei: “Bereitete oder verstellte der beiden Seiten auferlegte Imperativ der Befreiung den Weg zu einer wirklichen Versöhnung?” (11). Leider bedient sich das sehr ordentliche, reich bebilderte Buch der falschen Methode. Aus einer Propagandaanalyse lassen sich nur unter großen Verrenkungen Rückschlüsse auf die Mentalität von Befreiern/Besatzern und Befreiten/Besiegten ziehen. Politische Mythen in Diktaturen sind eben politische Mythen in Diktaturen. Wenn man wissen will, was davon geglaubt wurde, muss man Zeitzeugen befragen, es gibt noch genug (in Ansätzen macht das auch die Autorin, was Kasernenkontakte betrifft).
Kommunistische Kader taugen nicht als Gewährsleute, das Neue Deutschland gab nie die Ansichten des Volkes wieder. Natürlich werden Insassen totalitärer Staaten Tag und Nacht agitiert, aber inwieweit internalisiert wurde, steht auf einem anderen Blatt. Und die Leute sind nicht doof. Die sogenannten “Umsiedler”, die vergewaltigten Frauen, die Enteigneten, die Inhaftierten, die, die in den Westen flohen, hatten gute Gründe, in der Roten Armee keine Befreier zu sehen, auch wenn sie darüber schweigen mussten. Die dem untergegangenen Hitlerregime noch immer Treuen (ob überzeugte Nazis oder eher in Sebastian Haffners Sinn “loyalen Deutschen” – oder die, die eigentlich schon immer im heimlichen Widerstand gewesen waren) hatten schlechte Gründe, in der Roten Armee keine Befreier zu sehen, auch wenn sie darüber schweigen mussten.
Insofern funktioniert dieses Buch einfach nicht, so schön und klug es ist. Der Antifaschismus war eine Geschäftsgrundlage des SED-Regimes, ödete die Menschen aber an. Darum ist der Schluss so schwammig: “Zwar kam es über ein halbes Jahrhundert des Zusammenlebens von Befreiern und Befreiten zu keiner wahrhaftigen und nachhaltigen Völkerversöhnung, doch bahnten sich bei den Menschen vor Ort zunehmend Versöhnungsgesten den Weg” (262). Diese zu untersuchen wäre reizvoller gewesen als die offiziellen Quellen. Davon hat es genug, und den Bemühungen der “Deutsch-Sowjetischen Freundschaft” zum Trotz: Als die letzten russischen Soldaten 1994 abzogen, ging ein erleichtertes Seufzen durchs Beitrittsgebiet. Damit hat man den Rotarmisten Unrecht getan, denn die waren nicht freiwillig hier, und dafür, dass sie sich für “Sieger der Geschichte” halten sollten, mussten sie sehr eingeschränkt leben. Vom Ruhm, Deutschland besiegt und vom Nationalsozialismus befreit zu haben, profitierten sie am geringsten. Bei allem Skrupel, den Zeitzeugen gegen den Rezensenten auszuspielen: Als meine Klasse in der Agonie der späten Achtziger sowjetische Matrosen in Stralsund besuchte, gab es gutes Essen und hübsche Geschenke, aber zu sagen hatte man sich wenig. Dabei war kein Mangel an Denkmälern, Marxismus-Leninismus und Antifaschismus. Aber man kann sich eben nichts einreden (lassen).
Links:
Über das BuchSilke Satjukow: Befreiung? Die Ostdeutschen und 1945. Leipzig [Leipziger Universitätsverlag] 2009, 288 Seiten, 29,– Euro.Empfohlene ZitierweiseSilke Satjukow: Befreiung? Die Ostdeutschen und 1945. von Bader, Harald in rezensionen:kommunikation:medien, 20. Juli 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/495