Michael Stahl: Der Platz der Freiheit und sein Denkmal

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Rezensiert von Horst Pöttker

Vermutlich handelt es sich bei diesem durchaus aufschlussreichen Buch um eine akademische Abschlussarbeit, was aber weder dem Vorwort noch den Fußnoten zu entnehmen ist. Unter anderem die methodologischen Turnübungen zur Inhaltsanalyse (vgl. 37-43) sowie der manchmal jugendlich-flapsige, manchmal auch akademisch verkrampfte Stil lassen darauf schließen. Zum Beispiel ist in Zitaten aus Texten vor der großen Rechtschreibreform hinter alle Wörter mit einem “ß” ein “[sic]” gestellt. Dem Autor scheint nicht geläufig zu sein, dass in wissenschaftlichen Textwiedergaben die ursprüngliche Orthographie durchaus korrekt und auch sinnvoll ist.

Aufschlussreich ist die Arbeit, weil sie in dreifacher Hinsicht Aufmerksamkeitsmängel sichtbar macht:

Ihre beachtliche historische Forschungsleistung besteht einerseits darin, dass sie am Beispiel des “Platzes der Freiheit” in München-Neuhausen und seines Denkmals einen Mangel an ernsthafter politischer Aufmerksamkeit für die Erinnerung an die NS-Zeit aufdeckt. Im ersten Teil (vgl. 5-32) rekonstruiert Stahl die Geschichte des offiziell dem Widerstand gegen das NS-Regime gewidmeten, real aber zunehmend vernachlässigten, verwahrlosten und missbrauchten Gedenkorts anhand von lokalpolitischen Beschlüssen und Maßnahmen zwischen 1945 und 2014. Eine Etappe auf dieser “Reise” war ein von Susanne Mayer (CSU) initiierter Antrag des Bezirksausschusses Neuhausen-Nymphenburg vom 21. 10. 2008, in dem es nebst beigelegten Fotos u. a. hieß: “‘Die Landeshauptstadt München wird aufgefordert den ‘Platz der Freiheit’ zu sanieren. Insbesondere: 1. Die schadhaften und verwitterten Holzteile auf allen Sitzflächen des Gesamtensembles zu erneuern. […]  4. Ein Hinweisschild für Hundebesitzer sowie einen Spendenbehälter für Hundetüten am Eingang zum Rasenplatz aufzustellen. […] 6. Für die sofortige Entfernung des Sperrmüllcontainers und Sperrmülls am Gedenkstein zu sorgen.’ [Hervorhebung im Original]” (24).

Ein roter Faden des politischen Umgangs mit dem Gedenkort war das Interesse von maßgeblichen Akteuren aus SPD und CSU, den Eindruck eines Einhergehens mit Forderungen von kommunistischer Seite zu vermeiden. Auch als 2014 unter dem neuen Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) eine einschneidende Erneuerung in Angriff genommen wurde, galt noch: “Einig waren sich Stadtrat und ‘Stadtteilparlament’ in dem Punkt, dass es auf gar keinen Fall nach einem ‘Erfolg’ für die hiesige DKP-Ortsgruppe aussehen dürfte, wie diese im ‘Rotkreuzplatz-Blitz’ getitelt hatten” (28).

Andererseits deckt Stahls Untersuchung im zweiten Teil “Framing in der Lokalberichterstattung” (vgl. 33-69) auch journalistische Aufmerksamkeitsdefizite auf. Er analysiert, wie die Lokalpresse über das “WiderstandsDenkmal” berichtet hat, das 2016 nach einem Konzept des Künstlers Wolfram Kastner und der Lokalhistorikerin Ingrid Reuther am Platz der Freiheit errichtet wurde. Es besteht aus einem Rund von 13 Stelen, die Münchnerinnen und Münchner namentlich würdigen, welche sich im NS-Regime laut Kastner “in irgendeiner Form aktiv für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und überhaupt menschliches Lebensrecht eingesetzt haben […]” (35). Ursprünglich sollte das Denkmal nur ein Jahr stehen. In den Monaten nach der Einweihung, an der weder der Oberbürgermeister noch einer seiner Stellvertreter teilnahm, gab es mehrere Anschläge, bei denen Stelen beschädigt und mit Bildern von Nazigrößen überklebt wurden. Das löste Auseinandersetzungen um eine im Hinblick auf zunehmenden Antisemitismus und Rassismus von Neuhauser Bürgern geforderte Verstetigung der Erinnerungsstätte in dieser Form aus, die schrittweise Verlängerungen zu Folge hatten. Nach aktuellem Stand kann das Denkmal, das mutiges demokratisches Alltagshandeln würdigt, aufgrund eines Stadtratsbeschlusses bis 2026 erhalten bleiben.

Im Auge hatte Stahl zunächst fünf Tageszeitungen (Anzeigenblätter und Bürgerfunk hat er leider von vornherein wegen eines unterstellten Mangels an redaktioneller Qualität nicht in Betracht genommen): Das Boulevardblatt tz, die Regionalausgabe der Bild-Zeitung, die Süddeutsche Zeitung (SZ), den Münchner Merkur und die Abendzeitung.

Bei Bild fand sich zwischen April 2014 und April 2022 nur ein thematischer Treffer und auch die tz fiel mangels Archiv und Digitalisierung aus der Untersuchung heraus: ein bedauerliches methodisches Artefakt, weil sich zwischen Boulevardzeitungen – deutlich z. B. an der Hamburger Ausgabe der Bild und der Hamburger Morgenpost – erhebliche Unterschiede gerade bei Framing und Häufigkeit lokalhistorischer Themen zeigen können. Aber auch die Frequenzunterschiede zwischen den drei als seriös geltenden Blättern sind noch aufschlussreich: In der Abendzeitung gab es sechs, im Münchner Merkur zehn und in der SZ immerhin 25 Treffer, von denen sich jeweils vier, acht und 22 wegen ihres nennenswerten Umfangs für die “Framing”-Analyse eigneten.

Eins ihrer Ergebnisse fasst Stahl so zusammen:

“Vielfalt ist das beste Mittel gegen [einseitig reduzierendes] Framing. Doch genau daran mangelte es der Lokalberichterstattung zum ‘WiderstandsDenkmal’. Auch in den Vielfaltsarten, die der Framing-Komponente Kohärenz zugeordnet sind: Keine Vielfalt [der] Quellen, weil man z. B. nie im Stadtarchiv war […]; keine Vielfalt [der] Argumentativität, weil man z. B. nie die Anwohner befragte, was sie über das Denkmal denken; keine Vielfalt [im] Hintergrund, weil man das Denkmal z. B. auch nie an den ‘Geschichtsdidaktischen Standards für Produkte von Public History’ maß” (68).

Inhaltlich verdrängte das von der Stadtverwaltung geprägte Narrativ “Denkmal ohne Zukunft wegen fehlender Ausschreibung” andere mögliche Frames; und auch der Befund, dass die relativ umfangreiche Berichterstattung der SZ von einer einzigen freien Mitarbeiterin erledigt wurde, spricht gegen eine vielfältige journalistische Beachtung des Themas und für ein charakteristisches Versagen der Lokalressorts im publikumsattraktiven Themenfeld Ortsgeschichte.

Drittens ist an der Arbeit ein wissenschaftlicher und wissenschaftspublizistischer Aufmerksamkeits- und Sorgfaltsmangel ablesbar. Kritische Gegenüberstellungen von quellenbasierter geschichtswissenschaftlicher (Re-)Konstruktion von konkreten Vorgängen (“Realität”) und den geschichtsjournalistischen Narrativen darüber sind es durchaus wert, von erfahrenen Forscherinnen und Forschern realisiert zu werden. Unter der Dominanz nicht immer fachlich versierter konstruktivistischer Denkweisen in den Kulturwissenschaften stehen solche Ansätze aber unter dem Verdacht positivistischer Naivität und taugen bestenfalls als Übungsprojekte für Studierende.

Die Publikation von Stahls Studie ist für die akademische und verlegerische Vernachlässigung von konkreter Einzelforschung ein nachdrückliches Beispiel: Neben dem Mangel an Informationen über den Autor und dem laienhaften Sprachstil fehlt es auch in anderer Hinsicht an editorischer Sorgfalt: auf dem Titelblatt wird die Monographie als “Sammelband” ausgewiesen, angesichts des Untersuchungsgegenstandes wären Fotos  unerlässlich, die Druckversion war für den Rezensenten nur mit der Lupe lesbar. Die Zeiten, als in Wissenschaftsverlagen Lektoren und Lektorinnen arbeiteten, sind vorbei; die “GRIN Publishing GmbH” lebt offenbar davon, Abschlussarbeiten unbearbeitet und kostenpflichtig ins Netz zu stellen und “on demand” teure Druckversionen anzubieten. Immerhin werden so – wenn wohl auch nur aufgrund von Selbsteinschätzungen – interessante Abschlussarbeiten aus den Schubladen geholt, in denen sie sonst vergraben blieben.

Dabei geht es auch um Aufmerksamkeitsdefizite der Fächer selbst, in denen Arbeiten wie diese entstehen. Das lokalhistorische Ressort, so wichtig es für das Publikum und damit den Lokaljournalismus ist, führt in der Journalismusforschung ein Schattendasein.

In allen Kulturwissenschaften richtet sich das Erkenntnisinteresse auf Phänomene, die von Menschen hervorgebracht oder von ihren Handlungsweisen abgelagert werden. Sich darüber auf rationaler Grundlage zu verständigen, ist für gesellschaftlichen Zusammenhalt entscheidend. Für solche Verständigung wäre eine sorgfältig auf Verständlichkeit für die allgemeine Öffentlichkeit angelegte Präsentation kulturwissenschaftlicher Einsichten erforderlich. In der gegenwärtigen Praxis scheint sie vor allem der kommerziellen Kostenersparnis und der innerakademischen Qualifikation zu dienen.

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