Rezensiert von Hans-Dieter Kübler
Medienkritiken oder gar -schelten gibt es mittlerweile en masse (wie die beiden prominenten Autoren gleich eingangs einräumen und aus denen sie ausgiebig zitieren), einige eher ambitioniert, vielfach mit dem Anspruch wissenschaftlicher Reputation und innovativer Theoriebildung, andere eher populärwissenschaftlich, an ein breites Publikum gerichtet, sachlich oder auch tendenziös. Aber keine hat bislang solch einen medialen Hype ausgelöst wie die von Precht und Welzer, der eine mit der Aura des frei räsonierenden Philosophen, der andere als allthematisch dozierender Sozialwissenschaftler.
Diesen mehrwöchigen Medienrummel in sämtlichen als Leitmedien apostrophierten Publikationen schon vor dem Erscheinen des Buches, mithin als sogenanntes Medienereignis, empirisch zu analysieren, dürfte mutmaßlich spannender und symptomatischer sein als die umsichtige Lektüre des Buches. Besonders aufschlussreich könnte die Aufdeckung möglicher Gründe für diesen Wirbel werden, gewissermaßen als system- und selbstreferentielle Fallstudie: War und ist es ein durch und durch professionelles, perfekt getimtes und vollzogenes Marketing des Verlags, dem die angeblich mehrheitlich homogenisierten, strukturell konzertierten Medien, der “Cursorjournalismus” (wie die beiden brandmarken [136ff.]), bereitwillig auf den Leim gehen, oder war und ist es besagte Prominenz der Autoren, auf die die Medien schon seit längerem abfahren, oder alles zusammen. Davon profitieren alle wechselseitig, und das lukrative Glashaus wird sowohl gepflegt wie beworfen. Mithin könnte eine solche exemplarische Fallstudie Thema und Anliegen des Buches geradezu paradigmatisch veranschaulichen, quod erat demonstrandum.
Denn um zu ihnen durchzudringen und das Buch einigermaßen sachlich zu begutachten, stehen besagte Phänomene ständig im Wege. Man kann sich kaum von ihnen lösen, und immer wieder schleicht sich durch, was Precht und Welzer in diesem oder jenem Medium zur Erklärung, Rechtfertigung oder auch zur eitlen Selbstverteidigung verlautbart haben. So kann man uneingeschränkt der wohl nur momentanen Selbsteinsicht der beiden in der Einleitung zustimmen, dass die Kritik an den Medien, die von Autoren, also von ihnen, kommt, “die selbst vielfach in den Leitmedien präsent sind – sogar gelegentlich […] Teil des Problems […] sind” (17), es ungemein schwer haben wird, will heißen: oft genug zugespitzt und persönlich ausfällt, wobei die Attribuierung “gelegentlich” wohl etwas untertrieben ist.
Ein sinnfälliges Beispiel räumt Welzer in Buch und Interviews (z.B. STERN, Nr. 39, 22.9. 2022) erstaunlicherweise offen ein, nämlich dass er sich durch journalistische Kolleg*innnen verleiten ließ, dem ehemaligen Bundespräsidenten Wulff 2012 in der FAZ auch noch einen publizistischen Tritt verpasst zu haben, zumal von der “überlegenen Warte des Sozialpsychologen” aus, einfach um bei der Meute dabei zu sein. Aber es war vorgeblich der einzige Ausrutscher (vgl. 132f).
Die wesentlichen Argumentationsstränge oder Monita des Buches sind hingegen umgehend referiert, sie werden ja schon vielfach diskutiert: Vor allem die so genannten Qualitäts- oder Leitmedien – hier auch als “amtliche Medien” verunglimpft –, gewissermaßen von taz bis Welt, genauer wird es nicht, aber auch Bild rechnet bezeichnenderweise dazu, kämen ihren vielfach attestierten, für die Demokratie konstitutionellen Funktionen der Information, Kritik, Kontrolle und Integration immer weniger nach. Ihre Aufgabe, möglichst umfassend pluralistisch, sachlich und wahrhaftig zwischen Gesellschaft und Politik zu vermitteln, um so eine freie und offene Meinungsbildung aller Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen, erfüllen sie kaum noch.
Veranschaulicht werden diese Trends durch wenige, keineswegs ausreichende Inhaltsanalysen, die die bundesdeutsche Öffentlichkeit höchst selektiv, zeitlich und von den Untersuchungsgegenständen stark begrenzt, beleuchten: nämlich nur konzentriert auf besagte Leitmedien. Die 330 Regional- und Lokalzeitungen, die über 5.000 Zeitschriften, die unzähligen Rundfunk- und Fernsehsendungen sowie Onlineplattformen, die alle zur medialen bundesdeutschen Öffentlichkeit zählen und dazu beitragen, werden nicht erfasst.
Behauptet wird vielmehr, dass besagte Leitmedien durch die digitale Transformation und die wachsende Macht der Online-Medien gezwungen sind, Reichweiten- und Auflagenschwund, Werbe-, Publikums- und Titelverlust zu kompensieren. Die nahezu aussichtslose Konkurrenz suchen sie durch Aufmerksamkeitsfesselung, Personalisierung, Sensationalisierung, durch Fast-Food-Journalismus, Infotainment und Mehrfachvermarktung ihrer Produkte, durch Marktdiversifizierung und Begleitofferten für Reisen, Konsum, Beratung und Service aufzufangen.
Zusätzlich formieren sie sich immer stärker zu einem vermeintlichen, selbst produzierten Mainstream und wollen damit selbst Politik machen, mindestens beeinflussen, etwa durch permanente Umfragen, Rankings, personality stories der Politiker*innen etc. Die ehedem liberale Öffentlichkeit werde so kolonalisiert oder ganz ruiniert, die einst verfassungstheoretisch zugesprochene “Vierte Gewalt” pervertiert, die Demokratie zur “Mediokratie”1 transformiert. Der Preis dafür sei ein enormer Vertrauensverlust der Bürger und Bürgerinnen in die Medien und die Demokratie, die die beiden Autoren mit wenigen, meist einmalig erhobenen und beliebig gegriffenen Daten glauben belegen zu können, vorzugsweise von RTL/ntv.
Doch langfristige, mehrfach durchgeführte Erhebungen zu diesem gegenwärtig häufig beschworenen Thema gibt es nur wenige (vgl. Kübler 20222). So sind beliebte Vergleiche – meist bekräftigt durch exklusive Behauptungen (vom Typ: …”noch nie…”) – äußerst fragwürdig. Und auch die pauschale Argumentation scheint wenig schlüssig: Denn wenn die Leitmedien sich derart kommerzialisieren, warum sollten sie sich dann primär in die Politik einmischen und diese beherrschen wollen? Das wäre doch dem kommerziellen Erfolg eher abträglich, zumal von anderer Seite den Politiker*innen im Vergleich zu den wirtschaftlichen Eliten immer weniger Macht attestiert wird. Da muss es noch systemisch abstraktere Verflechtungen und Interdependenzen geben, die die beiden Autoren immerhin mit Verweisen auf Luhmanns Systemtheorie andeuten (vgl. 96, 139).
Neben diesen basalen Thesen hat das Buch, das eher einem eilig geschriebenen Essay mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten gleicht denn einer durchstrukturierten Analyse, einige solide, informative Abschnitte: so den historischen Abriss über die Entwicklung und Deformation bürgerlicher Öffentlichkeit, der erwartungsgemäß J. Habermas‘ Rekonstruktion nachzeichnet, oder – als Ursachenerklärungen der Pressekrise – die Aufarbeitung der ökonomischen, strukturellen Zwänge der Presse, der Erosion des Geschäftsmodells von Werbung und klassischen Medien sowie der skizzierte Siegeszug des Online-Journalismus und der Plattformökonomie sowohl beim wirtschaftlichen Kern wie beim textlichen Output, der einerseits zur wirtschaftlichen Konzentration, andererseits zum “Reichweiten- und Erregungsjournalismus der Direktmedien” [das sind gemeinhin Social Media] (195), zur Deformation des journalistischen Ethos sowie zur Anpassung der Textformen an den hektischen Häppchen-Duktus führt. Endlich einige sozialpsychologische Explikationen, wie Konformität in den Redaktionen und journalistische Mehrheitsmeinungen zustande kommen können, zumal wenn der Druck von außen immer stärker wird. Wohlgemerkt “können”, denn in diesen Passagen wechselt der sonst recht selbstgewisse Tenor der Autoren in relative, reflexive Möglichkeitsformen.
Zeithistorisch Interessierte mögen außerdem Gefallen an den vielen eingesprengten zeitgeschichtlichen Episoden finden, die die bundesdeutsche Vergangenheit geprägt haben und die die Autoren mit ihrem wachen Gegenwartssinn anführen. Traumatisch scheint für H. Welzer die Talkshow Anne Will vom 8. Mai 2022 gewesen und geworden zu sein, in der er sich aus seiner Sicht unfair mit mehreren Unterstützer*innen der Ukraine, darunter dem Botschafter A. Melnyk, auseinandersetzen und sich gegen sie behaupten musste. Denn unterschrieben hatte er den offenen Brief der (ehemaligen) Emma-Herausgeberin, Alice Schwarzer, an Bundeskanzler Scholz und beigepflichtet hatte er der darin geäußerten Position, dass die Ukraine nicht mit noch mehr Waffen unterstützt werde, sondern mit einer engagierten diplomatischen Offensive, die zu Waffenstillstands- oder gar Friedensverhandlungen führen sollten. Auf die vielfachen, begründeten Einwände reagierte er am Ende nur noch recht arrogant, mit dem Gestus, die anderen Gäste seien borniert und verstünden sein Anliegen nicht.
Diese für ihn wohl desaströse Erfahrung, die natürlich auch in der Presse danach ihren für viele vielstimmigen, für Welzer wohl fast einhellig negativen Widerhall fand, scheint das persönliche Motiv des Autors zu sein. Es durchzieht das gesamte Buch, wird immer wieder hervorgekehrt und offen oder unausgesprochen zur Selbst(v)erklärung hochstilisiert: Die beiden Autoren wollen so die unterdrückte, zumindest nicht berücksichtigte, vorgebliche Hälfte der Bevölkerung, die den Brief unterstützt und/oder für diplomatische Lösungen ist, schützen und ihnen – auch darüber hinaus bei anderen öffentlichen Anliegen – zu ihrem Wort und zu ihrer repräsentativen Vertretung verhelfen. Denn der in den “Gala- oder Cursor-Medien” (oder wie andere Invektiven lauten) sonst vorherrschende “Tunnelblick” (86) würde sie ignorieren.
Diese aktuellen und recht persönlichen Dimensionen des Buches und die einhergehende Medienkampagne, die gleichfalls wiederholt thematisiert wird, lassen sich von den sachlichen Dimensionen nicht trennen, zumal jene die Autoren immer wieder aufgreifen. Sie dürften die Halbwertszeit des Buches bald verkürzen. Aber daran sind wohl gewiss wieder die Medien schuld, darf man für die Autoren annehmen, obgleich sie keine Verschwörungsmythen munitionieren wollen. Sie hätten wohl besser daran getan, die einen von dem anderen zu trennen oder am besten die persönlichen ganz wegzulassen – auch mit der Preisgabe, dass ihre dann eher sachliche Medienkritik kaum mehr Aufmerksamkeit gewonnen hätte als alle anderen davor.
Links:
- Thomas Meyer (2001; 6.Aufl. 2015): Mediokratie. Die Kolonialisierung der Politik durch die Medien. Frankfurt/M.: Suhrkamp ↩
- Hans-Dieter Kübler (2022): Medienbewertung und -vertrauen in der Krise? Begriffliche und methodische Sondierungen und empirische Befunde. In: Medien & Altern, 20, S. 60 – 72. ↩