Rezensiert von Marlis Prinzing
Wenn verschwimmt, was wahr ist, wird nicht die Lüge selbst zum größten Problem, sondern der Verlust an Orientierung. Der Band Medien und Wahrheit liefert eine Auslegordnung, Einsichten sowie konkrete Denk- und Handlungsanstöße aus ethischer Sicht und leistet damit auch Grundlagenarbeit. Das macht ihn über den Tag hinaus wichtig.
Wahrheitsgebot und die Selbstverpflichtung auf Wahrhaftigkeit stehen im Pressekodex an erster Stelle (Deutscher Presserat 2017, Ziffer 1). Doch Wahrheit als mediales Berufsprinzip scheint mehr denn je in Frage zu stehen – spätestens seit der ehemalige amerikanische Präsident Donald Trump der Verpflichtung von Medien auf Wahrheit mit dem Begriff “Fake News” einen Spin gegeben hat. “Wahrheit” wurde einerseits zu einem Kampfbegriff erhoben, auch um die Norm der Medienfreiheit auszuhöhlen und die Rolle von Journalismus als Beobachter und Widersprecher in demokratischen Gesellschaften zu schwächen. Die Funktionslogik sozialer Medien andererseits mit Plattformbetreibern, die Emotion und vor allem Empörung zum Geschäftsmodell machten, degradierte Faktentreue zur Nebensache.
Der knapp 400 Seiten dicke Sammelband Medien und Wahrheit entstand auf Basis der Vorträge der Jahrestagung der Fachgruppe Kommunikations- und Medienethik der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, die im Februar 2020, als die Corona-Krise gerade anrollte, noch in Präsenz abgehalten werden konnte. Den Band haben Saskia Sell, Ingrid Stapf und Christian Schicha herausgegeben. Sie gehören auch zu den 25 Autor:innen, die theoretische oder empirische Beiträge erarbeitet haben. Etliche ziehen ein Fazit zwischen Hoffen und Bangen. Sie skizzieren Gestaltungsmöglichkeiten für eine digital aufgeklärte Gesellschaft, warnen aber auch vor düsteren Zukunftsaussichten, wenn nicht mit Checklisten, Regeln etc. auf herausfordernde Phänomene reagiert wird.
Das Herausgeberteam des Bands macht einleitend Stützpfeiler sichtbar: Sachlichkeit und Realitätsbezug als Stärke der Profession “Journalismus” sowie die Reflexion der Wahrheitsnorm auch aus Sicht der Philosophie sowie mittels der “Analyse ihrer Gegenspieler: der Täuschung und der Irreführung, der Fälschung oder gezielten Streuung von Desinformation, der Übertreibungen, unangemessenen Skandalisierungen sowie der Fehler und der Lückenhaftigkeit in Medienbeiträgen” (11). Die Herausgeber:innen zeichnen Positionen nach aus den seit längerem geführten Debatten zum Thema “Medien und Wahrheit”. Die Bandbreite reicht von Hermann Boventer, der 1986 Wahrheit sehr konkret als Ausrichtung an “faktische(r) Realität” entlang professioneller Prinzipien versteht, bis hin zu Markus Appels Sammelband aus 2020, in dem “postfaktische Phänomene” wie “Fake News”, Clickbait und Verschwörungstheorien diskutiert werden.
Der erste Teil des Buches fokussiert die philosophisch-ethische Auseinandersetzung mit Wahrheit bezogen auf digital bedingte Herausforderungen. Sybille Krämer entwirft eine Auslegordnung zu Wahrheit und Zeugenschaft in digitalen Öffentlichkeiten, aus der sich empirische und theoretische Impulse ergeben, aber auch praxisbezogene Handlungsaufträge. Wenn Journalismus seinem Publikum zeige, wie sich Manipulation entlarven lässt, und es ermuntere, aktiv Suchmaschinen entsprechend zu nutzen, dann sei dies ein Beispiel, wie sich Kritikfähigkeit in einer digital aufgeklärten Gesellschaft fördern lasse. Charles Ess setzt bei “technomoralischen Tugenden” (91) an, zu denen Vertrauen und Mut gehören. Man müsse sie üben. Dann öffnen sie die Tür in eine aufgeklärte Gegenwarts- und Zukunftsgesellschaft, in der plurale Erkenntnis und mündige Verantwortung “der Vielen” und angewendet in vielerlei Feldern (z.B. ethisch ausgerichtetes Design in den Ingenieurswissenschaften) akzeptiert und erwünscht sind. Ess warnt: Misslinge dieser Weg, dann drohe “eine feudale Versklavung von Systemen und Maschinen” (93).
Im zweiten Teil des Bandes folgen theoretische Einordnungen von “Fake News” und Desinformation; teils begründen sie auch das Festhalten an Bisherigem: Die Wahrheitsnorm in der Medienberichterstattung einzufordern, sei weiterhin unverzichtbar (Ingrid Stapf).
Im dritten Teil werden empirische Untersuchungen und Fallanalysen von Fälschungen und Manipulationen vorgestellt, darunter bildethische Analysen politischer Motive (Christian Schicha) und das Phänomen der Spielerei. Olaf Hoffjann erläutert an der Figur des Politikers als Spieler sehr plausibel, weshalb notorische Lügner heute Wahlerfolge einheimsen und wie politische Selbstinszenierung sowie die Akzeptanz von Lügen und Bullshit miteinander zusammenhängen. “Post Truth” sei keine Folge des Verhaltens von Donald Trump, Boris Johnson & Co., sondern diese machten sich die Neigung eines Teils des Publikums zunutze, Politik als Spiel zu sehen. Hoffjann adressiert die Medien: Solange solche Politikspieler so viel mediale Aufmerksamkeit bekommen, würden jene, die solche Spielchen nicht mitmachen, kaum etwas ausrichten und öffentliche politische Debatten sich weniger an Fakten und mehr an Gefühls- und Unterhaltungseffekten ausrichten. Sein Beitrag mündet in die Frage, ob Inszenierungsspiele bei Themen wie z.B. Krieg nicht zynisch seien. Das Porträt von Olena Selenska, der Gattin des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, das die Vogue am 26. Juli 2022 veröffentlichte, wäre ein hervorragendes Beispiel, um das zu diskutieren.
Der vierte Teil befasst sich mit Wahrheit im Journalismus. Saskia Sell und Bernd Oswald analysieren am Beispiel #faktenfuchs des Bayerischen Rundfunks die Herausforderungen, vor denen Verifikationsteams stehen. Thomas Zeilinger und Markus Kaiser entdeckten durch eine explorative Online-Befragung eine Lücke hinsichtlich ethischer Standards für automatisierte Berichterstattung. Der Relotius-Skandal des Nachrichtenmagazins Der Spiegel war Anlass für Impulse zur “Wahrheitssicherung” aus zwei Blickwinkeln heraus: Tanjev Schultz will ein Regelwerk, damit die strikte Trennung besser gelingt – Non-Fiction von Fiction, journalistische Erzählform Reportage von Literaturgenre. Tobias Eberwein möchte Kontrollstellen, die vorbeugen, dass Reporter:innen rhetorische Stilmittel missbräuchlich einsetzen. Der abschließende fünfte Teil des Bands zeigt ethische Herausforderungen an “programmierte Wahrheit” auf methodischer Ebene (so bei Christian Riessl zur Multimediaforensik, einer Form automatisierter Wahrheitsfindung) oder auf Akteursebene (so bei Michael Litschka zur unternehmensethischen Verantwortung von Plattformbetreibern).
Medien sind ein wichtiger Schlüssel für ein gutes und gelingendes Leben, Journalismus ist (und bleibt) eine bedeutsame Vertrauens- und Orientierungsinstanz in digital geprägten Gesellschaften. Ethik ist der Kompass, um sich in ihnen zurechtzufinden. Diese zentrale Rolle der Ethik wird noch immer häufig übersehen oder nur am Rande erwähnt, obgleich ihr eher eine Querschnittsfunktion zukommt. Der Band Medien und Wahrheit vertieft und verdeutlicht, was es mit uns und unserer Gesellschaft macht, wenn man nicht mehr recht weiß, wem man glauben kann, sich ausgeliefert fühlt. Er reflektiert den Ist-Zustand und bietet ein vor allem auf ethische Perspektiven und Zugänge gestütztes Argumentarium an für eine sachgerechte Debatte über Wahrheit, Orientierung und Verantwortung.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Prof. Dr. Christian Schicha an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
- Webpräsenz von Dr. Ingrid Stapf an der Eberhard Karls Universität Tübingen
- Webpräsenz von Dr. Saskia Sell an der Freien Universität Berlin
- Webpräsenz von Prof. Dr. Marlis Prinzing an der Hochschule Macromedia