Rezensiert von Guido Keel
Das Internet ist in den letzten fünfzehn Jahren zum zentralen Rechercheinstrument von Journalistinnen und Journalisten geworden. Während ursprünglich noch die Frage gestellt wurde, wie im Journalismus mit diesem neuen Informationsmedium umgegangen werden soll, interessiert das angesichts der Ubiquität der Online-Recherche und der Institutionalisierung der Online-Kommunikation bei öffentlichkeitsrelevanten Organisationen und Akteuren heute kaum mehr.
Eine Ausnahme bildet dabei die sehr viel chaotischere und schnelllebige Welt der Social Media, in der Informationen mit geringem zeitlichem und organisatorischem Aufwand von nahezu jedermann publiziert werden kann. Diese Welt der schnellen und unzuverlässigen Informationsvermittlung bietet Journalistinnen und Journalisten eine schier unendliche Fülle an Informationen und Geschichten. Gleichzeitig besteht hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit dieser Informationen eine beträchtliche Unsicherheit.
Damit sind wir beim Thema und der Forschungsfrage, die Florian Wintterlin in seiner Dissertation zu beantworten versucht: Welche Rolle spielen Social Media als Quellen im Journalismus, und inwiefern vertrauen Medienschaffende dieser Form von Quellen, die Wintterlin in seiner Arbeit “distanzierte Quellen” nennt. Mit dieser etwas gewöhnungsbedürftigen Bezeichnung meint Wintterlin Quellen, bei denen Journalistinnen und Journalisten “nicht die Möglichkeit (oder das Interesse) haben, die Akteure persönlich zu treffen” (17). Dieser Quellentyp umfasst dabei sowohl unbekannte Privatpersonen als auch professionelle Kommunikatorinnen und Kommunikatoren von Organisationen. Diese Definition des Gegenstandes scheint einerseits etwas allgemein, weil sie sehr unterschiedliche Arten von Social-Media-Quellen zusammenfasst, andererseits mangelt es ihr an Trennschärfe, weil zunächst unklar bleibt, inwiefern Akteure, die z. B. telefonisch kontaktiert werden und nicht via Social Media, auch den distanzierten Quellen zuzurechnen sind. Wie später klar wird, meint Wintterlin ausschließlich Social-Media-Quellen.
In den theoretischen Ausführungen beschreibt der Autor zunächst allgemein den Journalismus als soziales System, bevor er auf die Bedeutung von Quellen in der journalistischen Arbeit zu sprechen kommt. Hier folgt eine erste empirische Untersuchung, in der er explorativ anhand von acht Ereignissen, die sich zwischen 2011 und 2015 abspielten, untersucht, welche Bedeutung Social Media als Quelle für die journalistische Berichterstattung haben.
Wie der Autor selbst anmerkt, handelt es sich dabei um Ereignisse, bei denen keine Korrespondenten vor Ort waren und Informationen spärlich flossen. Neben einem Anschlag in Paris und den politischen Protesten in der Türkei fanden alle Vorfälle außerhalb Europas statt. Eine Situation, in der die Bedeutung von Social Media als Quellen einen umso größeren Stellenwert bekommt. Der Autor untersucht dabei neun Medientitel: drei TV-, einen Radiosender, ein Online-Magazin, zwei Tageszeitungen, eine Wochenzeitung und ein Wochenmagazin. Etwas wenig überraschend stellt er dabei fest, dass sich das Online-Magazin am stärksten auf Social-Media-Quellen stützt, während sich Radio am seltensten dieser Quelle bedient (vgl. 54). Weiter stellt der Autor fest, dass Social Media am ehesten bei politischen Krisen als Quellen eine Rolle spielen. Auch der zeitliche Bezug hat einen Einfluss darauf, ob Social Media als Quelle in Betracht gezogen werden: Für Breaking News werden häufiger Informationen von Social-Media-Quellen genutzt, während sie bei latenter Aktualität wie im Ukraine-Konflikt weniger bedeutsam sind (vgl. 63).
Für die Beantwortung der Frage, inwiefern Journalistinnen und Journalisten Social Media als Quelle vertrauen, legt der Autor in einem zweiten Theorieteil auf gut sechzig Seiten Erkenntnisse und Modelle aus der (weitgehend soziologischen) Vertrauensforschung dar. Damit erklärt der Autor, wie sich Vertrauen in Quellen generell erklären lässt. Basierend auf diesen Überlegungen formuliert er sieben Forschungsfragen zum Thema Vertrauen in Quellen. Zur Beantwortung dieser Fragen führt er anschließend Leitfadengespräche mit zwölf Medienschaffenden aus allen Medientypen und in unterschiedlichen Funktionen. Angesichts der umfangreichen theoretischen Vorarbeit für diesen Teil der empirischen Untersuchung fällt der Erkenntnisgewinn vergleichsweise bescheiden aus. Jedenfalls stellt der Autor fest, dass die “Risikowahrnehmung” (184) im Umgang mit Quellen aus Social Media von vier Faktoren abhängt: der Relevanz des Themas, der Verfügbarkeit anderer Quellen, der Einzigartigkeit des Ereignisses, über das berichtet wird, und der Art der Quelle, womit v. a. frühere Erfahrungen mit der Quelle gemeint sind.
Schließlich führt der Autor eine dritte empirische Untersuchung durch, in der er Journalisten in Deutschland und England – einem Land, in dem Social Media als Quellen im Journalismus eine große Rolle spielen – mittels eines Online-Fragebogens zum Umgang mit Social Media als Quellen befragt, insbesondere, welche Faktoren einen Einfluss auf die Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit haben. Zur Formulierung von Hypothesen zieht der Autor dabei – nachdem er sich auf den ersten zweihundert Seiten seiner Arbeit an den üblichen Theorien und Modellen der Journalismusforschung orientierte – etwas überraschend Bourdieus Feldtheorie bei. Dabei versucht er, Einflussfaktoren zu identifizieren, die sich entscheidend auf die Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit von Quellen auswirken.
Wie der Autor abschließend selbst feststellt, handelt es sich bei der Arbeit um eine bzw. drei explorative Studien, die versuchen, systematisch zu erklären, wie Journalistinnen und Journalisten mit distanzierten Quellen bzw. Social Media als Quellen umgehen. Die Berücksichtigung der Vertrauenstheorie öffnet dabei den Blick auf die Wirkung und das Zusammenspiel möglicher Einflussfaktoren. Die Studie bleibt aber nicht nur explorativ, sondern auch weitgehend deskriptiv, indem die Erkenntnisse aus den drei empirischen Untersuchungen kaum problematisiert und beispielweise mit den normativen Ansprüchen an den Journalismus bzw. dessen Leistungsfähigkeit in Beziehung gesetzt werden. Die Arbeit entspricht in ihrer Gründlichkeit den Anforderungen und Charakteristika einer Dissertation und mag andere Forscherinnen und Forscher inspirieren, basierend auf diesen Erkenntnissen eigene Untersuchungen anzustellen. Für die anwendungsorientierte Wissenschaft mit normativer Dimension oder gar für die journalistische Praxis scheint die Arbeit jedoch weniger geeignet. Dafür bleibt die Arbeit zu allgemein in ihrer Beschreibung der angetroffenen Realität.
Links:
Über das BuchFlorian Wintterlin: Quelle: Internet. Journalistisches Vertrauen bei der Recherche in sozialen Medien. Baden-Baden [Nomos] 2019, 280 Seiten, 54,- Euro.Empfohlene ZitierweiseFlorian Wintterlin: Quelle: Internet. von Keel, Guido in rezensionen:kommunikation:medien, 3. Februar 2021, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22603