Thomas Birkner, Patrick Merziger, Christian Schwarzenegger (Hrsg.): Historische Medienwirkungsforschung

Einzelrezension, Rezensionen
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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension

Als Jahrhundert der Massenmedien gilt das 20. Jahrhundert; entsprechend kursieren die einschlägigen Etiketten wie “Mediengesellschaft”, “Mediendemokratie” oder “Mediokratie” wohlfeil. Für Historiker*innen besonders misslich ist, dass sie zumal für die erste Hälfte nur über wenige Quellen, Daten und Studien verfügen, um diese Entwicklungen empirisch-analytisch zu unterfüttern. Deshalb veranstalteten die Herausgebenden in der DGPuK-Fachgruppe Kommunikationsgeschichte im Januar 2017 in Leipzig eine einschlägige Tagung, deren Beiträge in diesem Sammelband nunmehr veröffentlicht werden. Gegliedert sind sie in zwei Blöcke: in einen ersten mit fünf Beiträgen, die sich um die theoretischen Zugänge einer historischen Medienwirkungsforschung kümmern sowie mögliche Methoden und die dafür passenden Materiallagen sondieren, und in einen zweiten mit acht Fallstudien, die beispielhaft Projekte und Studien einer solchen historischen Medienwirkungsforschung präsentieren, die sich allerdings ausschließlich auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fokussieren.

Was die Beiträge im ersten Block angeht, so annonciert Patrick Merziger als einer der Herausgeber in seiner Einleitung sogleich, dass “eine Vereinheitlichung der Positionen […] gerade nicht Ziel des Sammelbandes” (12) gewesen sei. Warum man sich aber nicht wenigstens über die gewiss diffuse Semantik zentraler Begriffe im Lichte der Kommunikationswissenschaft verständigt hat und auch andere, womöglich weiterführende einschlägige Begriffe bzw. Ansätze einbezogen hat, ist nicht nachvollziehbar. So spricht die erste Beiträgerin von Rezeptionsforschung und eben nicht Wirkungsforschung, was aus historischer Sicht angebrachter ist und größere analytische Horizonte ermöglicht als der nach wie vor behavioristisch geprägte Wirkungsbegriff. Dass der Wirkungsbegriff “tendenziell in die falsche Richtung führt” (12), hätten alle Beiträge eingangs moniert, so der Herausgeber. Nicht zuletzt, so muss hinzugefügt werden, weil er nur mikrostrukturell, auf Individuen oder Gruppen, gemünzt ist. Warum dann aber nicht der soziologisch viel diskutierte und weiterreichende, makrostrukturell ansetzende Begriff des sozialen Wandels überhaupt in Betracht gezogen wird, für den durchaus vielfältige historische Daten, Materialien und auch Studien zu finden sind, bleibt unerfindlich. Ihn thematisierte im Übrigen bereits eine ähnlich gelagerte Tagung, namens “Medienrezeption seit 1954”, vor gerade 20 Jahren, die hier nicht einmal erwähnt wird (vgl. Klingler u.a. 1998).

Im ersten Beitrag begutachtet die Historikerin Ulrike Weckel vielfältige Quellentypen, nämlich Buchrezensionen, Filmkritiken, Hörerbriefe und Umfrageergebnisse auf ihre Ergiebigkeit und subjektive Zeugenschaft für eine historische Rezeptionsforschung (sic!), womit sie die Rezipient*innen selbst zu Wort und zur Deutung ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit kommen lassen will. Eine Entmystifizierung der Medienwirkung will der Kommunikationswissenschaftler Patrick Merziger durch Luhmanns Theorem der Anschlusskommunikation erreichen, weil dadurch die Wirkung “sehr viel konventioneller” ausfalle (74) und den Historiker*innen “schlagartig” mehr Rezeptionsmaterial, vor allem auch von den Massenmedien selbst, verfügbar werde (75).

Der Mediensoziologe Hans-Jörg Stiehler plädiert für eine sorgfältige Re-Analyse von Wirkungsdaten und die Einbeziehung weiterer, etwa medienbiografischer Interviews, um einen über die Zeitgenossenschaft hinausgehenden Horizont für die historische Rezeptionsforschung (sic!) zu erschließen. Auch der Medienwissenschaftler Udo Göttlich fasst den Wirkungsbegriff mit dem Theorem der Aneignungsprozesse der Rezeption weiter. Mit ihm will er Habitualisierungen und Routinen des Mediengebrauchs des Publikums analytisch abgreifen. Schließlich folgert der Kulturwissenschaftler Kaspar Maase aus seinen bekannten Forschungen zur populären Kultur, dass Praktiken des Umgangs mit Medien aus dafür verantwortlichen Routinen, Gewohnheiten und Verhaltensmuster auch in der Historie rekonstruiert werden können, die sich wiederum aus vielfältigen Quellen und Dokumenten erschließen lassen.

Die Fallstudien im zweiten Block beginnen mit zwei wissenschaftsinternen Analysen. Benno Nietzel widerspricht zunächst der gängigen Periodisierung der Forschung in starke und schwache Wirkungen. Vielmehr haben die starken Wirkungsannahmen auch in den 1950er Jahren dominiert. Anhand der frühen Werbe(wirkungs)forschung will Patrick Rössler zeigen, dass Wirkungsannahmen schon seit den 1920er Jahren differenziert ausfielen. Der Kommunikationshistoriker Andre Dechert untersucht mit dem Ansatz der Anschlusskommunikation Zeitungsrezensionen zu amerikanischen Serien und ihre Behandlung gesellschaftlicher Anerkennung von Jugendlichen. Medienbiografische Interviews mit Westberlinerinnen und Westberlinern hat die Kommunikationsgeschichtlerin Maria Löblich geführt und herausgefunden, dass deren Medienumgang nicht allein durch die ‘Frontstadt’ Berlin geprägt wurde.

Zeitgenössische kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen unterziehen die nächsten Beiträge einer Re-Analyse. Zunächst bearbeitet Andy Räder Studien zur Filmrezeption von Kindern erneut, die das Nationale Zentrum für Kinderfilm und -fernsehen durchführte. Trotz vieler aufschlussreicher Einblicke zeigt sich der Autor über mögliche Evidenzen skeptisch. Optimistischer zeigt sich die beim MDR arbeitende Medienforscherin Gerlinde Frey-Vor, die etliche zeitgenössische Studien zu ostdeutschen Medienwelten, die sie teils selbst durchführte, erneut überprüfte und für historische Erkenntnisse für durchaus ergiebig erklärt.

Noch näher an Rezeptionsbeispiele rücken die beiden letzten Studien heran: Fernando Ramos Arenas betrachtet exemplarisch Gepflogenheiten und Sehweisen von Filmclubs, wie sie in der DDR üblich waren. Und Tabea Bodenstedt untersucht Briefe aus dem Kreis der Hörer*innen der durch Carmen Thomas beliebten WDR-Sendung Hallo Ü-Wagen, wobei sich vor allem Motive der Mitgestaltung finden lassen. Ohne Frage liefern all diese Beiträge Mosaiken zur Kommunikations- und Mediengeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob sie auch mehr als Anhaltspunkte liefern, “wie die Rezipierenden massenmediale Inhalte verarbeiten”, oder gar “wie das Publikum ein zentraler Faktor in der Medienwirkung bleibt”, wie der Herausgeber einleitend behauptet (18), darüber müsste m. E. noch gründlicher recherchiert, nachgedacht und differenzierteres methodisches Rüstzeug eingesetzt werden.

Literatur:

  • Walter Klingler, Gunnar Roters, Maria Gerhards (Hrsg): Medienrezeption seit 1945. Forschungsbilanz und Forschungsperspektiven. Baden-Baden [Nomos] 1998

Links:

Über das BuchThomas Birkner, Patrick Merziger, Christian Schwarzenegger (Hrsg.): Historische Medienwirkungsforschung. Ansätze, Methoden und Quellen. Köln [Herbert von Halem] 2020, 324 Seiten, 34,- Euro.Empfohlene ZitierweiseThomas Birkner, Patrick Merziger, Christian Schwarzenegger (Hrsg.): Historische Medienwirkungsforschung. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 22. Dezember 2020, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22471
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