Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus

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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension
Noch eine Version eines pauschalen Labels für eine ganze Ära und gesellschaftliche Formation, nach den vielen anderen wie Informations- und Wissensgesellschaft, digitaler Kapitalismus, Zweite oder Dritte Moderne: Dieses stammt von der ehemals an der Harvard Business School lehrenden Ökonomin und Sozialpsychologin Shoshana Zuboff, die bereits 1988 mit dem Best- und Longseller In the Age of the Smart Machine berühmt wurde und nun erneut um die Welt tingelt (DIE ZEIT, Nr. 52, 12. Dezember 2019): der so genannte “Überwachungskapitalismus”, entwickelt und ausgebreitet in einem Wälzer auf mehr als 700 Seiten, der erhebliche Lesemühen beansprucht.

Doch schon über die Spezifik, Substanz und Spannweite ihrer Diagnose ist sich die Autorin offenbar unklar. Denn eingangs kennzeichnet sie die bereits virulente Formation (besonders in den USA, dann aber auch in Europa) als “beispiellos” (27), als einen “völlig neuen Akteur der Geschichte, sowohl originär als auch sui generis”, wozu es zu seiner Analyse wie auch zu seiner effektiven Bekämpfung gänzlich neuer Benennungen (vgl. 29) erforderlich seien. Andererseits rekonstruiert sie in den vielen Kapiteln danach etliche Vorläufer, Vorbedingungen und Entwicklungsstränge spätestens seit dem Industriekapitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie zieht historische Vergleiche, konsultiert analytische Vorarbeiten, bedient sich auch metaphorischer Anleihen und bettet so den Überwachungskapitalismus in historische Dynamiken und Kontexte ein (womit sie nicht zuletzt ihre beeindruckende Belesenheit, aber auch ihren etwas leichtfertigen Umgang mit historischen Fakten unter Beweis stellt).

Dabei pflegt sie einen eigenwilligen, für europäische akademische Erwartungen unerwarteten, auch blumigen Stil, eher im essayistischen denn stringent-analytischen Modus (allerdings mit umfangreichen Anmerkung- und Literaturreservoirs), mit persönlichen Begebenheiten, Erfahrungen und Anekdoten, weil sich – wie sie betont – der Ernst des Überwachungskapitalismus und seine Folgen “nur in seiner ganzen Tragweite begreifen [lassen], wenn wir die Narben nachziehen, für die er auf der Haut unseres Alltags sorgt” (38), wobei sich die assoziativen Zusammenhänge nicht immer unmittelbar erschließen. Schließlich bemüht sie immens viele verschiedene Begriffe und Analogien, analytische Beziehungen und unterschiedliche Details (angeblich gewonnen mittels vieler Interviews mit amerikanischen einschlägig Verantwortlichen) und resümiert sie mehrfach in kompakten Typisierungen sowie Zusammenfassungen ihrer Grundthesen, in großer Redundanz und vielfältiger Wiederholung, so dass häufig der rote Faden zu verloren gehen droht.

Dabei ist die basale These ihrer Arbeit relativ simpel, vermutlich unterkomplex, aber womöglich plausibel, nämlich: Wie der Industriekapitalismus die äußere Natur (und damit die materiellen Lebensgrundlage) des Menschen sukzessive erobert, sie sich unterjocht hat und bis zur existentiellen Neige brutal ausbeutet, so tue inzwischen dies der Überwachungskapitalismus mit der inneren Natur des Menschen, seinen Erfahrungen, seinem Wissen, seinen Gefühlen und Bedürfnissen mittels der permanenten Sammlung und Auswertung seiner Daten und mache ihn dadurch zu einem steuerbaren, letztlich willenlosen Instrument. Vor allem die amerikanischen IT- und Social-Media-Konzerne Microsoft, Google und Facebook sieht die Autorin massiv, brutal und bislang weitgehend ungehindert am Werk.

Dagegen haben Staat, Demokratie, Gesetzgebung und Zivilgesellschaft nur noch wenig Chancen, sich wirksam dagegen zu stemmen und sichere Freiheitsräume zu erhalten oder zurückzuerobern. Zur kategorialen Einordnung vergleicht sie die aktuellen Fehlentwicklungen und Risiken mit totalitären, diktatorischen oder gar faschistischen und stalinistischen Regimen oder ganz allgemein mit Tyranneien; Hannah Arendts berühmtes Buch über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gilt ihr als analytische Vorlage. Ihr Opus wolle außer Analyse und Einordnung auch Kampfansage und Gegenanstrengung sein, wie die Autorin mit moralischem Impetus appelliert. Denn geklärt oder – genauer – gekämpft werden müsse gegen die “Überwachungskapitalisten” (die die Autorin so personalisiert, ohne dass sie außer den Chiefs von Google und Facebook, Eric Schmidt und Mark Zuckerberg, sagt, wen sie meint, und damit das strukturelle Level in verschwörungstheoretischer Manier ständig verlässt): “Wer weiß? Wer entscheidet, wer weiß? Und: Wer entscheidet, wer entscheidet?“ (509 passim).

Im Einzelnen identifiziert sie folgende Tendenzen und Interventionen: Der Überwachungskapitalismus enteignet die menschliche Erfahrung und mutiert sie zu Big Data für Werbung und Kommerz (die ihn bezahlen); er absorbiert die überkommenen Strukturen der kollektiven Wissensteilung in der Gesellschaft, macht die Menschen von seinen Mechanismen und Konditionen abhängig, zerstört die mit der Aufklärung erreichte Autonomie und die bürgerliche Errungenschaft der Privatheit (hier etwas altertümlich: “Freistatt” genannt), zwingt die Menschen hingegen in die neuen Kollektivismen des Schwarms und beraubt sie ihrer Individualität und Identität. Er dominiert sie als “instrumentäre Macht”, und mit seiner “Extraktionslogik” und “radikalen Indifferenz” manipuliert er ihr Verhalten (im Sinne eines “Big Other”), beraubt sie ihrer natürlichen Rechte auf Zukunft, autonome Entfaltung und freien Willen, untergräbt ihre Selbstbestimmung und lässt sie psychisch abstumpfen. Analytische Pioniere dafür findet die Autorin nicht zuletzt beim Sozialpsychologen B. F. Skinner und seinen Gefolgsleuten des Behaviorismus, die in den 1940er und 1950er Jahren bedenkliche Experimente zur Verhaltenssteuerung durchführten und darüber problematische bis zynische theoretische Versatzstücke propagierten. In ökonomischer Hinsicht firmieren als Wegbereiter des Überwachungskapitalismus die Verfechter des Neoliberalismus und der radikalen Marktwirtschaft wie der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek.

In drei großen Teilen erarbeitet die Autorin ihr Thema: Im ersten rekonstruiert sie die Grundlagen des Überwachungskapitalismus, seine historischen Ursprünge (sic!) und seine frühen Entwicklungen. Dazu zählen vor allem die aus ihrer Sicht bei Google entwickelten Konditionen und Mechanismen, die ökonomischen Imperative und “Bewegungsgesetze” (34), entstanden aus einer vermeintlich ‘harmlosen’ Suchmaschine, die weltweit triumphiert und sich mit vielfältigen Anwendungen diversifiziert. Im zweiten Teil verfolgt sie die “Migration des Überwachungskapitalismus vom Online-Milieu in die reale Welt” (35), die vor allem durch personifizierende und identifizierende Techniken der Verhaltensmodifikation erzielt wurden und werden. Schließlich, im dritten Teil, untersucht sie den Aufstieg besagter IT- und Social-Media-Konzerne zur “instrumentären Macht” (36), die eine “allgegenwärtige, wahrnehmungsfähige und vernetzte rechnergestützte Infrastruktur” (hier: “Big Other” genannt) erzeugt und die “neuartige, zutiefst antidemokratische Vision der Gesellschaft und der sozialen Beziehungen”, als “Projekt totaler Gewissheit” (36) generiert.

Da bleibt viel Ungleichzeitiges, Gegenläufiges und Unvereinbares ausgeblendet, zumal wenn man mit den gewählten Analysekategorien globale Größenordnungen beansprucht, aber letztlich doch nur den amerikanischen Blickwinkel fokussiert. Und selbst nur für die westliche Welt dürfte man bei genauerem empirischem Hinschauen manches Widersprüchliche und Abseitige entdecken (die die Autorin erstaunlicherweise gerade für ihre persönlichen Erfahrungen reklamiert). Doch für ihre grundsätzliche Argumentation belässt es Autorin bei besagter kategorialer Abstraktion und theoretischer wie praktischer Ausweglosigkeit und beschwört immer wieder die umrissenen verheerenden, totalitären Tendenzen in drastischen Vokabeln. Nur ganz am Ende ihres Werkes führt sie freilich relativ unerwartet und beliebig einige widerständige, aber voraussichtlich wirkungslose Gegenszenarios der jüngsten Zeit an – wie etwa Edward Snowdens NSA-Enthüllungen, investigative Entschlüsselungen von Fake News durch Journalist*innen in den USA, einige Gesetzesinitiativen oder sogar die EU-Datenschutzverordnung –, die eine “menschliche Zukunft” (76), die Dritte Moderne, avisieren sollen. Aber diese kasuistischen Beispielen bleiben im krassen Kontrast zur ganzen systematischen, recht düsteren, wenn auch reichlich verästelten und mitunter unentschiedenen Diagnose, so dass man an die Parole am Ende “Jetzt reicht’s” (angeblich den Ereignissen des Berliner Mauerfalls entlehnt!) nicht so recht glauben kann.

Links:

Über das BuchShoshana Zuboff: Das Zeitalter des Ãœberwachungskapitalismus. Frankfurt u. New York [campus] 2018, 727 Seiten, 29,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseShoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 16. Juni 2020, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22210
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