Rezensiert von Steffen Burkhardt
Im Zentrum von Skandalen stehen Zustände, Entwicklungen oder Verhaltensweisen, die öffentlich als moralische Normverstöße etikettiert werden und gesellschaftliche Empörung evozieren. Damit sind Skandale nicht – wie in alltäglichen Zusammenhängen und lange Zeit auch im wissenschaftlichen Kontext angenommen – Normverstöße, sondern Kommunikationsprozesse, in denen Moral gesellschaftlich ausgehandelt und aktualisiert wird. Während dieser Aushandlungsprozesse, in denen der Journalismus nach wie vor diskursprägend operiert und mit Blick auf seine medialen Dynamiken gut erforscht worden ist, hat die Skandalforschung ihren moralischen Nukleus vernachlässigt. An diesem blinden Fleck setzt nun der Soziologe Stefan Joller an, der durch die Analyse moralsoziologischer Ansätze das Zusammenspiel von Skandal und Moral untersucht.Im ersten Teil seiner wissenssoziologisch ausgerichteten Studie arbeitet Joller die Konzeption von Moral in der Skandaltheorie heraus, die sich im Wesentlichen zwei Strängen zuordnen lässt: normativen Ansätzen, die in der Bewertung von kommunizierten Normverstößen ihre soziale Relevanz sehen, und deskriptiv-analytischen Studien, die sich auf die grundlegenden Mechanismen und Funktionen der Skandalisierung konzentrieren. Nüchtern fasst er zusammen, dass sich in der Skandalforschung eine gewisse Redundanz eingespielt hat: “Dies mag bei der Leserschaft nicht immer für anhaltende Spannung sorgen, kann aber doch als Zeichen für eine gewisse Konsolidierung des Forschungsbereichs gedeutet werden“ (16).
Die zentralen Ergebnisse der Skandalforschung fasst Joller prägnant-kritisch zusammen. Wer sich kompakt darüber informieren möchte, was Skandale sind und was nicht, der oder dem seien genau diese nicht einmal zwanzig Seiten zur Skandaltheorie als Lektüre nachdrücklich empfohlen, die besser sind als das meiste, was zu dem Thema bislang geschrieben wurde. Der Autor erläutert darin, wie Skandale mit dem Vorwurf einer moralischen Verfehlung beginnen, der von den Skandalisierern gegenüber relevanten Dritten öffentlich enthüllt und mit Empörung etikettiert wird. Differenziert beschreibt er, wie sich dabei triviale Skandale von komplexen Skandalen unterscheiden: “Im Unterschied zu komplexen Skandalen thematisieren triviale Skandale Verfehlungen, die weder in Bezug auf den konkreten Verstoß noch in Bezug auf die übertretene Norm strittig sind” (23). Da komplexe Skandale hochgradig streitbar sind und eine forcierte Etikettierung der Verfehlungen als empörungswürdig benötigen, sind diese Wertungen selbst der permanenten Gefahr ausgesetzt, skandalisiert zu werden. Die Etikettierung geht mit spezifischen Rollenerwartungen einher, die auf den Habitus der Skandalisierten gerichtet sind und enttäuscht wurden. Die Empörung bedarf dabei einer moralischen Klammer, der Dramatisierung und Konstruktion von Disproportionalität.
Dieser moralischen Aufladung nimmt sich Joller im zweiten Teil seines Buchs eingehend an und führt aus, warum die Moral “eines der Geburtsmale der Soziologie“ ist, “von dem immer wieder mal ein Juckreiz ausgeht“, der “sie dazu bringt, diese Stelle mit einer Art Schmerzenslust zu kratzen“ (Bergmann, Luckmann 1999: 14). So wie die Emanzipation der soziologischen Forschung von der Sittenlehre konstitutiv ist, so ist es der wissenssoziologische Zugang zu Skandalen, die eben nicht normativ als Normverstoß, sondern als sozialer Diskurs analysiert werden müssen. Jollers entsprechendes Kapitel zur “Soziologie der Moral“ (30 ff.) ist daher nicht nur eine von Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber ausgehende kursorische Darstellung der moralischen Emanzipationsgeschichte der Soziologie, sondern implizit auch eine Begründung für die Verortung kommunikationswissenschaftlicher Skandalforschung als soziologische Praxis und Arbeitsauftrag.
In Auseinandersetzung mit Durkheim, der sich von moralphilosophischen Abhandlungen abgrenzt, arbeitet Joller den Aneignungsprozess der Moral in Skandalen durch die Aushandlung des Anschlusses an spezifische Gruppen und die damit verbundene Unterordnung des Individuums heraus. Auch die daran anschließende Darstellung des systemtheoretischen Zugriffs auf die Moral (als “fluider und hochinfektiöser Gegenstand“) von Niklas Luhmann und sozialkonstruktivistischen Konzeptionen der Moral (“als Brille, deren Sitz auf der Nase gerne vergessen wird“) von Jörg Bergmann und Thomas Luckmann reflektieren die soziohistorischen Überlegungen zur Moral als polymorpher Form im Sinne Durkheims, stellen aber eine Neuausrichtung dar, die Joller ausführlich würdigt.
Sein Fazit: “Eine erkenntnisversprechende Moralanalyse zeichnet sich […] dadurch aus, dass sie dem jeweiligen Verhältnis von der Funktion der Moral, ihrer Form und ihrer realisierten Inhalte gerecht wird, indem sie neben der Genese ebenso die Variation sowie die Stabilisierung der Moral zu durchdringen vermag“ (119). Hierfür schlägt Joller luzide die Analyse der Konkurrenz moralischer Kollektive vor, die spezifische Achtungsbedingungen generalisieren und für die sozialstrukturelle Verortung von und durch Moral sorgen. Diese Verortung legt er aus öffentlichkeitstheoretischer Perspektive, vor allem in Rückgriff auf das ältere Ebenenmodell von Jürgen Gerhard und Friedhelm Neidhardt (in Referenz auf Goffmans Encounter-Öffentlichkeit) dar.
Wie fruchtbar diese theoretische Erweiterung auch unter den Bedingungen digitaler Kommunikation ist, führt Joller im letzten Teil seines Buchs im Rahmen einer Fallstudie zur Plagiatsaffäre um Karl-Theodor zu Guttenberg überzeugend vor, indem er herausarbeitet, dass die funktionale Relevanz der Plagiatsdokumentation GuttenPlag keine Schlüsse auf die moralische Entfaltung der Affäre zulässt: “Vielmehr verändert die äußerst effiziente Plagiatsdokumentation die Rahmenbedingungen der moralischen Konfrontation, weswegen schließlich Transgressionen zweiter Ordnung ins Zentrum der Konkurrenz moralischer Kollektive rücken, implizite Sanktionsdrohungen kommunizierter Achtungsbedingungen auf einen größeren Personenkreis einwirken und der Forderung nach Konsequenzen Nachdruck verleihen“ (225). Auch diese Fallstudie, die wie viele treffend gewählte Beispiele in den Theoriekapiteln die Modellierung der Moral veranschaulicht, macht Jollers Buch trotz des hohen Abstraktionsgrads seines Untersuchungsgegenstands zu einer pointierten Lektüre. Sie sei allen nachdrücklich empfohlen, die den Zusammenhang von Kommunikation und Moral erforschen.
Literatur:
- Bergmann, Jörg und Thomas Luckmann (1999): Moral und Kommunikation. In: Dies. (Hrsg.): Kommunikative Konstruktion von Moral. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 13-36.
Links:
Über das BuchStefan Joller: Skandal und Moral. Eine moralsoziologische Begründung der Skandalforschung. Weinheim [Beltz Juventa] 2018, 248 Seiten, 34,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseStefan Joller: Skandal und Moral. von Burkhardt, Steffen in rezensionen:kommunikation:medien, 13. September 2019, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21954