Rezensiert von Stephan Mündges
Worauf klicken Nutzer? Wie viel Zeit verbringen sie mit einem Artikel? Schauen sie ein Video bis zum Ende? Im Digitalen lässt sich die Nutzung von Inhalten genaustens messen. Als Schlagwort dafür hat sich der Begriff ‘Analytics’ etabliert. Auch Journalisten greifen auf Daten zurück, die ihnen mehr darüber erzählen, wie viele User ihre Seite ansteuern, wie häufig welcher Artikel gelesen wird oder wie intensiv Nutzer mit einem Post auf Facebook interagieren. Seit gut einem Jahrzehnt befasst sich auch die Journalismusforschung intensiv damit, wie Journalisten diese neuen Möglichkeiten nutzen und wie sie den Journalismus verändern.Wohl kaum ein Forscher hat dazu so viele Studien publiziert wie Edson C. Tandoc Jr. von der Nanyang Technological University in Singapur. Der ehemalige Zeitungsjournalist hat nun auch ein Buch veröffentlicht: In Analyzing Analytics bietet er einen Überblick über die bislang erschienene Literatur, berichtet von seinen eigenen ethnographischen und Befragungsstudien und diskutiert, welche Auswirkungen die Nutzung von Analytics-Daten auf den Journalismus hat.
Der schmale Band ist in sechs gut lesbare Kapitel unterteilt. Der hastige Leser findet im ersten Kapitel eine prägnante Zusammenfassung des Forschungsstandes, der in den folgenden fünf Kapiteln vertieft wird. In “Changing audiences“ (2. Kapitel) zeichnet der Autor nach, wie groß bislang der Einfluss des Publikums insbesondere auf redaktionelle Entscheidungen war und erklärt, warum Journalisten in analogen Zeiten wenig bis gar kein Interesse für Publikumsfeedback aufbrachten. Dabei bezieht er sich vor allem auf Studien und Literatur aus dem angelsächsischen Raum, sodass sich dieser Part nicht gänzlich auf deutschsprachige Medien übertragen lässt. Hierzulande hat schon vor der Verbreitung des Internets und der damit einhergehenden Verbreitung von Analytics eine Entwicklung hin zu einer stärkeren Beachtung von Publikumsinteressen und Erkenntnissen aus der Publikumsforschung eingesetzt (Hohlfeld 2002; Blöbaum et al. 2010). Tandocs Diagnose, wie sich das Verhältnis des Journalismus zum Publikum durch die Digitalisierung verändert hat und welche Auswirkungen das auf den Journalismus hat, ist wiederrum erhellend.
Spannend ist auch seine Definition von “Web Analytics“ wie er sie im dritten Kapitel ausarbeitet. Tatsächlich kursieren in der Journalismusforschung mehrere Begriffe, die die Anwendung von Analytics im Journalismus meinen, dabei aber unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Tandoc selbst schreibt in diesem Zusammenhang stets von “Web Analytics“, womit er die Erfassung und Analyse von Nutzungsdaten meint, die eine Medienorganisation über die eigene Webseite sammelt (vgl. 27). Eine recht enge Definition. Andere Autoren fassen das Gebiet weiter, Rodrigo Zamith bezeichnet das Forschungsfeld beispielsweise als “Audience Analytics“, womit Systeme gemeint sind, die das Nutzungsverhalten von Publika erfassen (Zamith 2018). Ein breiterer Begriff, der auch Daten miteinschließt, die z. B. über Social Media-Kanäle gewonnen werden. Leider wird im weiteren Verlauf nicht ganz klar, welche Auswirkungen diese konzeptionellen Unterschiede bei der Bewertung des Einflusses von Analytics auf den Journalismus haben.
Herzstück des Buches ist das vierte Kapitel. In “Journalists adapting“ referiert Tandoc ausführlich und kenntnisreich, welche empirischen Ergebnisse mittlerweile für das Forschungsfeld vorliegen: Der Einfluss, den Analytics-Daten entlang der verschiedenen Schritte der Nachrichtenproduktion haben, wird hervorragend herausgearbeitet. Dabei betont er, dass Analytics bislang nicht vollständig die journalistische Intuition ersetzt haben, denn es gebe nach wie vor “wide spaces for editorial judgement“ (39). Ebenfalls hervorzuheben ist seine Feststellung, dass sich die Anwendung von Analytics in der journalistischen Arbeit – und damit gleichermaßen die Auswirkungen auf den Journalismus – stets verändert haben, wie die Forschung der vergangengen zehn Jahre zeigt. Das liegt auch am technischen Fortschritt (Analytics-Software wird kontinuierlich weiterentwickelt), aber vor allem an sich verändernden Nutzungsmustern durch Journalisten.
Wie verändern Analytics den Journalismus? Dieser Frage geht der Autor in den letzten zwei Kapiteln nach. Einige dieser Veränderungen sind wohl zu vernachlässigen: Wer will schon kritisieren, dass sich Nachrichtenseiten bei den Zeitpunkten, an denen Inhalte veröffentlicht werden, daran orientieren, wann damit ein möglichst großes Publikum erreicht wird? Relevanter sind Fragen einer durch Analytics forcierten Kommerzialisierung: Wenn Reichweite ohne Rücksicht auf journalistische Standards optimiert wird, droht der Journalismus seine Legitimität als gesellschaftliche Institution zu verspielen. Tandoc betont, dass diese Gefahr durchaus real ist: “In my interviews, observations, and surveys, I find that the adoption of web analytics is an economic rather than a journalistic strategy“ (64). Aber: Er nennt auch Positivbeispiele, Situationen, in denen Journalisten Analytics genutzt haben, um die Reichweite von gesellschaftlich relevanten Inhalten zu erhöhen. Dementsprechend fordert er, dass Journalisten den Gebrauch von Analytics stärker reflektieren sollten. Und dass die Forschung sich nicht nur auf die Beschreibung des Ist-Zustands beschränken, sondern diesen auch gegen normative Ansprüche abwägen sollte.
Leider endet das Buch an dieser Stelle. Man hätte sich mehr Überlegungen gewünscht: Wie genau könnten Journalisten denn Analytics einsetzen, um ihrer gesellschaftlichen Funktion gerecht zu werden? Sollten gängige Messgrößen, wie Unique Users und Engaged Time ersetzt werden? Cherubini und Nielsen hatten in einem 2016 veröffentlichten Report in diese Richtung argumentiert. Oder ist der Einsatz von Analytics nicht zwingend notwendig für die Existenzsicherung journalistischer Organisationen? Nicht damit sie Reichweiten maximieren, sondern damit sie erfolgreich Digitalabos verkaufen können. Und welche normativen Ansprüche sollte die Forschung hinsichtlich der Anwendung von Analytics an die journalistische Praxis stellen? Braucht es nicht auch einen reichweitenstarken Journalismus, um auf digitalen Plattformen und im Kampf um Aufmerksamkeit noch Gehör zu finden? Diese Fragen bleiben nach der Lektüre offen. Da hilft wohl nur, was Tandoc im letzten seines Buches Satz schreibt: “We need to continue analyzing analytics.“
Literatur:
- Blöbaum, B., Bonk, S., Karthaus, A., & Kutscha, A. (2010). Das Publikum im Blick. Die veränderte Publikumsorientierung des Journalismus seit 1990. http://journalistik-journal.lookingintomedia.com/?p=441. Zugegriffen: 21. Okt. 2017.
- Cherubini, F., & Nielsen, R. K. (2016). Editorial Analytics. How News Media are Developing and Using Audience Data and Metrics. Oxford: Reuters Institute for the Study of Journalism University of Oxford.
- Hohlfeld, R. (2002). Journalismus für das Publikum? Zur Bedeutung angewandter Medienforschung für die Praxis, in: R. Hohlfeld, K. Meier, & C. Neuberger (Hrsg.), Innovationen im Journalismus. Forschung für die Praxis (S. 155–201). Münster: Lit.
- Zamith, R. (2018). Quantified Audiences in News Production. In: Digital Journalism, 5(2), 1–18. doi: 10.1080/21670811.2018.1444999.
Links:
Über das BuchEdson C. Tandoc Jr.: Analyzing Analytics. Disrupting Journalism One Click at a Time. London und New York [Routledge] 2019, 82 Seiten, ca. 40 Euro.Empfohlene ZitierweiseEdson C. Tandoc Jr.: Analyzing Analytics. von Mündges, Stephan in rezensionen:kommunikation:medien, 23. Juli 2019, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21889