Rezensiert von Stefan Geiß
Die beiden vorliegenden Bände zur Skandalforschung teilen mehr als nur den ungefähren Themenbereich. Beide setzen an entscheidenden Forschungslücken an:Inga Oelrichs verlässt die eingefahrene Schiene der Fallstudien, beobachtet stattdessen die Berichterstattung von Süddeutscher Zeitung, Bild und Kölner Stadt-Anzeiger über ein ganzes Jahr hinweg und extrahiert eine Liste von Fällen, die zentrale Merkmale des unscharfen Skandalbegriffs erfüllen. Aus dieser Liste zieht sie dann 32 Fälle für die genauere inhaltsanalytische Untersuchung. Diese Vorgehensweise ist zwar nicht ganz neu, aber dennoch keineswegs typisch für Skandalstudien. Daraus ergibt sich ein größeres Potential für verallgemeinerbare Befunde.
André Haller, Hendrik Michael und Martin Kraus geben einen Band heraus, der sich Internationalisierung und, insbesondere, Interdisziplinarität auf die Fahnen geschrieben hat und dieses Programm mit dem Begriff “Scandalogy“ versieht. Die gegenseitige Unkenntnis oder das gegenseitige Ignorieren der Erkenntnisse in angrenzenden Fächern, die sich mit demselben gesellschaftlichen Phänomen (in diesem Fall eben: dem “Skandal“) beschäftigen, ist sicher ein bedauerlicher Zustand, der in der Skandalforschung vermutlich noch stärker zutage tritt als bei vielen anderen Phänomenen. Der programmatische Titel Scandalogy scheint die “Gründung“ einer eigenen Disziplin als Ausweg anzubieten – was vielleicht nicht ganz so radikal gemeint ist wie es sich im ersten Moment anhört.
Für beide Bücher gilt: richtige Diagnosen und weitreichende Ziele versprechen spannende Einsichten.
Skandalfaktoren
Oelrichs Dissertation ist ein ambitioniertes Projekt, das die Nachrichtenauswahl in Skandalen erklären helfen soll; ein wichtiger Hintergrund ist, dass das Wirkungspotential von Skandalberichten maßgeblich von Menge, Platzierung und Artikellänge der Berichterstattung sowie vom Ausmaß des dargestellten Schadens und der Anprangerung abhängt. Als Zugang wählt Oelrichs die Nachrichtenwerttheorie, die sie gründlich aufarbeitet und dabei neben den klassischen Nachrichtenfaktoren skandalspezifische Faktoren herausarbeitet, die die unterschiedliche Intensität der Berichterstattung über verschiedene Fälle erklären können.
Ein grundsätzlicher Nachteil der Nachrichtenwerttheorie ist, dass sie den Fokus auf den einzelnen Beitrag lenkt, wohingegen Skandalforschung vor allem Muster auf Ebene der einzelnen Fälle untersucht hat. Die Skandalforschung würde z. B. nahelegen, fallweise “geglückte“ oder “erfolgreiche“ Skandalisierungen mit “missglückten“ Skandalisierungsversuchen zu vergleichen. Stattdessen untersucht die Arbeit, welcher Beitrag besser und welcher schlechter platziert ist, welcher umfangreicher usw. Dies entspricht zwar der Logik der Nachrichtenwerttheorie, entfernt sich aber vom grundsätzlichen Erkenntnisinteresse der Arbeit, das Wirkungspotential einer Skandalisierung in einem Skandalfall zu erklären.
Der gründlich herausgearbeitete Faktorenkatalog steht im Spannungsverhältnis zu den Forschungsfragen, die sehr allgemeiner und eher deskriptiver Natur sind: etwa die Identifikation bislang nicht berücksichtigter Faktoren, die Erfassung ihrer Prävalenz und ihrer Zusammenhänge mit Aufmachung, Platzierung und Anprangerungsgrad sowie Unterschiede zwischen Medien werden als Ziel gesetzt. Das Resultat sind sehr breit angelegte Analysen, die schwierig zusammenzufassen und zu interpretieren sind. Das wirkt sich leider in der späteren Auswertung entsprechend aus.
Die drei Teilstudien (Gruppendiskussion mit Medienmachern, Inhaltsanalyse der Berichterstattung, quantitative Journalistenbefragung) sind sehr aufwändig gestaltet und im Großen und Ganzen sauber umgesetzt. Die Darstellung der Methode ist jedoch zu wenig strukturiert und konfrontiert den Leser oftmals mit Querverweisen und Seitensträngen; auch die Ausdrucksweise könnte pointierter sein (“Analysestrategie“ statt “Deskription und multivariate Analysen als Methoden der Datenauswertung“ [147]). Die Kerninformationen sind enthalten, aber mitunter schwierig zu finden.
Die Befunde der verschiedenen Regressionsanalysen zur Erklärung von Umfang, Aufmachung und Anprangerungsgrad zeigen einige spannende Muster auf, deren Interpretation aber alles andere als einfach ist. Wer plakative Befunde und Interpretationen sucht, wird sie hier schwerlich finden. Dies ist sicher Ausdruck des Versuchs einer differenzierten Interpretation. Viele Leser werden sich jedenfalls deutlichere, verbindlichere und mutigere Interpretationsangebote wünschen.
Auch in der Interpretation fehlt oftmals der Rückbezug auf den zugrundeliegenden Fall, der aufgrund der Fokussierung auf einzelne Beiträge leicht aus dem Blick gerät. Noch weitere und tiefergehende Analysen auf Grundlage der 32 Fälle mit Aggregation der Beiträge zum jeweiligen Skandal (Ansätze dazu gibt es in Kapitel 9.1) könnten offenlegen, unter welchen Bedingungen welche Berichterstattungsmuster zu erwarten sind und unter welchen Bedingungen das Wirkungspotential besonders groß ist. Eine wertvolle Studie, deren Erkenntnisgehalt bedauerlicherweise – aufgrund der zu breiten Forschungsfragen, der zurückhaltenden Interpretation und der Konzentration auf Beiträge statt Skandalfälle – hinter ihrem Erkenntnispotential zurückbleibt.
Scandalogy
Im Scandalogy-Band ist nach dem programmatisch klingenden Titel rasch klar, dass die Herausgeber doch deutlich kleinere Brötchen backen wollen – anstelle eines “interdisciplinary field“ ist das Ziel, die Netzwerke zwischen Skandalforschern aus verschiedenen Disziplinen zu stärken (vgl. 9) und aktuelle Forschungsbeiträge vorzustellen (ebd.). Nach der Lektüre des Buchs bleiben vielfältige und vielschichtige Eindrücke zurück – manche Ideen wecken Zustimmung, andere Widerspruch, wieder andere entziehen sich einer abschließenden Wertung. Es empfiehlt sich, exemplarisch einige der zwölf Beiträge herausgreifen, um einen Eindruck zu vermitteln.Der E-Mail-Austausch zwischen Robert M. Entman (“To frame is to select…“) und Hendrik Michael behandelt die scheinbaren Skandale rund um Donald Trump, die aber stets nur im “demokratischen“ politischen Lager zu Empörung führten und daher vielleicht eher als publizistische Konflikte denn als Skandale zu gelten hätten. In diesem Punkt ähnelt das politisch polarisierte Muster aus den USA dem, das Mincigrucci et al. (siehe unten) von politisch instrumentellen Skandalisierungsversuchen in Italien berichten. Man fühlt sich ein wenig an gelehrte Dialoge der griechischen Philosophieklassiker erinnert, wenn Frage, Antwort und Nachfrage trotz aller Kürze eine tiefere Diskussion entspinnt als lange Monologe. Das Ergebnis ist absolut lesenswert.
Der Soziologie von Emotionen im Kontext von Skandalen nähert sich Monika Verbalyte. Ihr Beitrag zeigt – ohne großes Aufsehen – auf, dass in Skandalen zwar durchaus der eine oder andere Rezipient spontan mit Emotionen im engeren, psychologischen Verständnis reagiert (Ärger, Empörung). Das große Gewicht in Skandalen kommt jedoch den eingeübten, ritualisierten, präskriptiv-erwarteten, diskursiven Emotionen zu, die langanhaltend zugeschrieben werden ohne dass Emotionen im psychologischen Sinne dazu nötig wären. Jeder weiß, dass im Angesicht eines Skandals Ärger die erwartete und erwünschte Reaktion ist, vielleicht ohne dass derjenige sich tatsächlich ärgert. Die eigentliche vorhersehbare emotionale Reaktion des einzelnen Rezipienten ist zwar die Keimzelle dieser diskursiven Emotion, die aber deutlich weiter reicht als der wirkliche Ärger es jemals könnte. Auch wenn diese Kernbotschaft sich erst nach und nach entpuppt, ist dies ein sehr lesenswerter Beitrag.
Die Strategien in einer Skandalisierungskampagne gegen einen politischen Gegner durch Berlusconis Medienimperium zeichnen Roberto Mincigrucci, Anna Stanziano und Marco Mazzoni nach. Sie zeigen auch, wie im polarisierten Italien andere parteiische Medien versuchten, die Skandalisierungsversuche gegen Gianfranco Fini zu widerlegen und zu entschärfen. Die politische Instrumentalisierung der Medien in Skandalisierungskampagnen dürfte auch dazu beitragen, dass Skandalisierungsversuche häufig scheitern und lagerübergreifende Empörung kaum mehr hervorgerufen werden kann. Letztlich, so könnte man annehmen, verlieren die Medien an Glaubwürdigkeit. Der Skandal wird eben durch den Versuch, ihn zu instrumentalisieren, zum stumpfen Schwert.
Die Politikwissenschaftler Dominic Nyhuis und Susumu Shikano greifen auf Umfragedaten zur CDU-Spendenaffäre zurück und setzen ein bayesianisches Schätzverfahren ein, um Bewertungen politischer Akteure von ideologischen Färbungen der Befragten zu bereinigen (Ideologie-Komponente) und die reine Valenz-Komponente offenzulegen. Mithilfe dieses Verfahren zeigen sie auf, wie stark die Bewertung Helmut Kohls durch den Skandal gelitten hat und wie sehr dies auf die CDU abgefärbt hat. Schäubles Bewertung wurde zunächst mitgerissen, erholte sich jedoch später wieder. Dieses spannende Dekompositionsverfahren würde seine Stärke noch mehr ausspielen können, wenn es mit Medieninhaltsanalysen kombiniert würde.
Die PR-Forscher W. Timothy Coombs, Sherry J. Holladay und Elina R. Tachkova – die beiden Ersteren als wichtige Ideengeber in der Krisenkommunikationsforschung bekannt – versuchen sich an einer Integration der Begriffe “Skandal“ und “Krise“. Sie gehen dabei davon aus, dass Skandale nicht einfach ein Untertypus von Krisen seien. Skandale, die sich aus Krisen entwickeln (“transmogrifizieren“), sollen demnach als “Scansis“ bezeichnet werden; die moralische Empörung sei dabei das entscheidende Kennzeichen.
Diese Begriffsvorschläge hinterlassen bei mir einige offene Fragen. Neben grundsätzlichem Unbehagen gegenüber solchen ‘Kofferwörtern’ bleibt für mich unklar, welche Vorteile eine solche Begrifflichkeit mit sich bringen würde. Warum Krisen nicht mehr als Krisen bezeichnet werden sollen, sobald es zu moralischer Entrüstung kommt, erschließt sich mir nicht. Coombs eigene Situational Crisis Communication Theory (SCCT) unterscheidet etwa je nach Attribution von Schuld zwischen rumor, victim, accident und intentional crises, wobei gerade bei intentional crises die Empörung eine naheliegende Reaktion der Öffentlichkeit sein dürfte (so nennen die Autoren auch “Intentionalität“ auch als “transmogrifizierenden“ Faktor). Naheliegender erschiene mir, Skandale aus Sicht der Organisation als besonders ernste Form der Krise zu definieren, die schon weiter fortgeschritten ist.
Scandalogy bietet viele interessante Ansatzpunkte, die in die zukünftige Skandalforschung einfließen werden, über die man sicher unterschiedlicher Ansicht sein kann. Doch gerade der laut Titel zentrale Aspekt der Interdisziplinarität bleibt unterbelichtet– sicherlich sind Autoren und Beiträge aus verschiedenen Disziplinen versammelt, sie stehen aber (bislang) eher nebeneinander. Die Möglichkeiten zur gegenseitigen Bereicherung dieser Perspektiven auszuloten bleibt eine Herausforderung.
Für beide Bücher sollte man Zeit und Geduld mitbringen, sie erschließen sich nicht beim ersten Durchblättern. Sie verstärken wichtige Entwicklungslinien in der Skandalforschung und sind gleichzeitig Ausdruck derselben. Der eingeschlagene Weg ist sicher richtig, aber es ist auch klar, dass jeweils noch ein weiter Weg zu gehen ist.
Links:
- Verlagsinformationen zu Scandalogy
- Verlagsinformationen zu Skandalfaktoren
- Webpräsenz von Dr. Inga Oelrichs an der Deutschen Sporthochschule Köln
- Webpräsenz André Haller (Hrsg.) an der Otto-Friedrich-Universität-Bamberg
- Webpräsenz Hendrik Michael (Hrsg.) an der Otto-Friedrich-Universität-Bamberg
- Webpräsenz von Martin Kraus (Hrsg.) an der Otto-Friedrich-Unviersität-Bamberg
- Webpräsenz von assoz. Prof. Dr. Stefan Geiß an der Universität Trondheim
Inga Oelrichs: Skandalfaktoren. Analysen zu Darstellung und Strukturen medialer Skandalisierung auf Basis der Nachrichtenwertforschung. Köln [Herbert von Halem] 2017, 316 Seiten, 29,- Euro.Empfohlene ZitierweiseSkandalös! – Sammelrezension zur Skandalforschung. von Geiß, Stefan in rezensionen:kommunikation:medien, 13. März 2019, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21678