Magali Trautmann: Show and Tell

Einzelrezension, Rezensionen
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Rezensiert von Karl N. Renner

Einzelrezension
Der Dokumentarfilm galt einmal, wie das der Dokumentarfilmer Peter Krieg 1986 spöttisch formulierte, als das “einzige Schlafmittel, das man durch die Augen einnehmen kann“ (25). Das hat sich deutlich verändert. Deutschland. Ein Sommermärchen (D 2006), Die Reise der Pinguine (F 2005), Bowling for Columbine (USA 2002) sind nur die bekanntesten Beispiele jener Dokumentarfilme, die zunächst im Kino und dann im Fernsehen beachtliche Erfolge erzielten.

Dieser Erfolg, so die These der filmwissenschaftlichen Dissertation von Magali Trautmann, geht insbesondere darauf zurück, dass sich diese Dokumentarfilme “als filmische Erzählung[en] mit all den Parametern präsentier[en], die auch dem fiktionalen Erzähltext zur Verfügung stehen“ (135). Trautmann verfolgt in ihrer Arbeit zwei Ziele. Im ersten Teil, “Dokumentarfilm als Kunstwerk: Forschungsumfeld und Thesen“, geht es ihr um die theoretischen Kategorien für die Untersuchung von Dokumentarfilmen. Der zweite Teil “Der narrative Dokumentarfilm: Handlungsspielräume und Analysen“ soll einen Einblick in das neue dokumentarische “Erzählkino“ bieten.

Die zentralen Fragestellungen des ersten Teils gelten dem Realitätsbezug und der Narrativität von Dokumentarfilmen. Trautmann stützt sich hier auf die Arbeiten, die Hohenberger, Kiener, Hattendorf und Nichols zum Dokumentarfilm vorgelegt haben, und auf die erzähltheoretischen Arbeiten von Genette und Kuhn. Besonders wichtig sind ihr aber die filmwissenschaftlichen Arbeiten von Roger Odin und André Gaudreault, die sie in Deutschland bekannt machen möchte. Schade, dass sie für die recht umfangreichen französischen Zitate keine deutsche Übersetzung beifügt.

Wie ertragreich diese Zusammenschau deutscher, amerikanischer und französischer Forschungstraditionen ist, zeigt sich bei der Frage nach dem Realitätsbezug von fiktionalen und nicht-fiktionalen Filmen und Texten. Hier hat sich überall das Vertragsmodell durchgesetzt, wonach Autoren und Rezipienten auf Grundlage paratextueller Informationen einen kommunikativen Kontrakt schließen, ob ein Film bzw. Text als Spiel- oder Dokumentarfilm, als fiktional oder nicht-fiktional rezipiert werden soll. Trautmann zeigt nun, wie diese Idee eines “kontextuell beeinflussten Rezeptionsprozesses“ (56) mit den Überlegungen Odins zum Prozess der Filmlektüre (vgl. 57-70) und Gaudreaults Überlegungen zum filmischen Erzählen (vgl. 82-98) verknüpft werden können.

Der Angelpunkt ist der Begriff der Diegese, jener Welt, die von den Rezipienten bei der Lektüre eines Films bzw. Textes konstruiert wird und in der die Geschichte spielt (vgl. 64 f.). Je nachdem, ob die Rezipienten die erzählerische Hervorbringung dieser Welt einem fiktiven oder einem “realen, hinterfragbaren Enunziator“ zuschreiben, rezipieren sie einen Film in einem fiktionalisierenden Modus als Spielfilm oder in einem dokumentarisierenden als Dokumentarfilm. Die Anwendung des einen Rezeptionsmodus, so Trautmann, führt aber nicht zur Unterdrückung des anderen: “Obwohl ich einen Film in Teilen fiktionalisierend lese, kann ich ihn in seiner Gesamterscheinung als Dokumentarfilm (an-)sehen“ (70). Einen maßgeblichen Einfluss haben dabei die Großform eines Films, die entweder themen- oder handlungsgeleitet ist (vgl. 71), und sein Darstellungsmodus. Trautmann unterscheidet hier im Anschluss an Gaudreaults Explikation des Mimesisbegriffs zwischen Monstration und Narration bzw. zwischen Showing und Telling, so der Titel ihrer Arbeit.

Die dominierende Erzählweise der narrativen Kinodokumentarfilme ist die Monstration. Diese Filme erwecken “den Eindruck einer in sich geschlossenen, autarken Welt, die sich dem Leser respektive Zuschauer direkt vermittelt“ (102 f.). Sie zielen mit ihren Montagetechniken (Schuss-Gegenschuss-Verfahren, unsichtbarer Schnitt), der Konstruktion ihrer Figuren und ihren Perspektivierungsverfahren auf eine “absichtsvolle Nichtkenntlichmachung eines narrativ geschaffenen Universums“ (102) und streben danach, dass die von ihnen gezeigte diegetische Welt gegenüber der vor- und nicht-filmischen Wirklichkeit als transparent erscheint.

Trautmann geht an die Entwicklung ihrer Kategorien geisteswissenschaftlich heran und verfolgt die Entstehung der zentralen Begriffe sorgfältig bis in die Verästelungen. Insbesondere die Diskussion der Relation von Mimesis und Diegesis (vgl. 82-91) zeigt, welche Probleme sich hier immer wieder auftun, wenn theoretische Konzepte, die für fiktionale Sprachkunstwerke entwickelt wurden, so erweitert werden sollen, dass sie für faktuale und audiovisuelle Medienbeiträge fruchtbar werden. Umso höher ist einzuschätzen, dass es Trautmann gelingt, ein solides Begriffssystem vorzulegen, das nicht nur zur filmwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Dokumentarfilm geeignet ist, sondern auch einen wichtigen Beitrag zum interdisziplinären Austausch mit der empirischen Forschung leisten kann, etwa mit den medienpsychologischen Arbeiten, die zu den Rezeptionsmodalitäten von Kinofilmen vorliegen.

Bedauerlich ist jedoch, dass der zweite Teil der Dissertation nicht konsequent dazu dient, den praktischen Ertrag der theoretischen Überlegungen vorzustellen. Er bietet vielmehr einen filmhistorisch angelegten Überblick über die aktuellen Tendenzen des Dokumentarfilms und folgt dabei recht heterogenen Kriterien. Das erste Kapitel orientiert sich am Thema (der narrative Naturraum Ozean, der Gerichtssaal als Schauplatz), das zweite und dritte am gestalterischen Zugang (spannendes Erzählkino, komisches Erzählkino) und das vierte an Fragen der Medienkonvergenz (nichtfiktionale Literaturadaptionen, dokumentarische Animationsfilme). Ebenso heterogen sind die verwendeten Methoden. Der aufwändig entwickelte Begriffsapparat tritt immer wieder zurück gegenüber der herkömmlichen Filmkritik, der Produktionsgeschichte sowie der Beschreibung von Handlungsstrukturen und interfilmischen / intermedialen Bezügen. Zweifelsohne sind auch diese Kapitel lesenswert, vor allem das über den komischen Dokumentarfilm. Doch insgesamt verliert die Dissertation dadurch an Überzeugungskraft, dass sie als Sammelband angelegt ist und nicht als Monographie, die stringent der Anwendung eines innovativen Ansatzes verpflichtet ist.

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Über das BuchMagali Trautmann: Show and Tell. Der narrative Kindodokumentarfilm von 1995-2015. Köln [Herbet von Halem Verlag] 2017, 386 Seiten, 49,- Euro.Empfohlene ZitierweiseMagali Trautmann: Show and Tell. von Renner, Karl R. in rezensionen:kommunikation:medien, 15. Januar 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20900
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