Rezensiert von Judith Pies
“Am Tag 16 – nach einer Belagerung von 360 Stunden – kommen Bob Solisa und seine Freunde mit erhobenen Händen nach draußen. […] Sie sind erschöpft. Mürbe geklopft. An die Wand geredet.“ (76) An die Wand geredet von einem Psychiater, den der niederländische Staat engagiert hat, um eine Zugentführung militanter Süd-Molukken im Jahr 1975 gewaltfrei zu beenden.Dieses Ereignis ist der Ausgangspunkt für Westermans Reportage, in der er der Frage nachgeht, ob “wir überhaupt eine verbale Verteidigung gegen Terror haben.“ (15) Zur Beantwortung rekonstruiert er die gewaltsamen Aktionen von in den Niederlanden lebenden Süd-Molukken. Die militanten Mitglieder der Bewegung für eine Republik der Südmolukken (RMS) hatten in den 1970er Jahren mit Zugentführungen und Geiselnahmen in den Niederlanden versucht, die Unabhängigkeit der südindonesischen Inselgruppe zu erzwingen. Der niederländische Staat beantwortete die ersten Angriffe auf eine ungewöhnliche Art: mit den Geiselnehmern reden, bis sie aufgeben.
Zweimal war damals diese verbale Verteidigung gegen politisch motivierte Gewalt erfolgreich. Wie sich die Wirkkraft von Worten in diesen Fällen entfalten konnte, beschreibt der Autor eindrücklich und detailliert mithilfe der damals Beteiligten: den verhandelnden Psychiatern, den Geiselnehmern und deren sozialem Umfeld. Er spricht mit Terrorismusexperten und nimmt selbst an zwei Trainings zu deeskalierendem Verhalten teil. Die intensive Recherche zu den beiden Fällen bietet so eine ungewöhnliche und spannende Perspektive auf das Thema Terrorismus.
Die Kontrastierung des “dutch approach“ mit den Reaktionen der russischen Regierung auf Anschläge und Geiselnahmen militanter Tschetschenen in den 1990er und 2000er Jahren misslingt hingegen. So differenziert und umfassend Westerman die Kommunikation zwischen niederländischem Staat und Südmolukken ausbreitet, so pauschal beschreibt er die russisch-tschetschenische. Beispiele hierfür sind Phrasen wie “Wer sich mit Russland anlegt, wird zermalmt – das ist keine Philosophie, sondern ein Reflex“ (86) oder indem er das Reden und Verhandeln als “unrussisch“ bezeichnet (87).
Grundsätzlich ist der Vergleich des staatlichen Umgangs mit terroristischen Angriffen und die Rolle des “Redens“ eine vielversprechende Herangehensweise an die zentrale Frage. Zumal Westerman die Leser an seiner persönlichen Suche teilhaben lässt und in der Gegenüberstellung offen seine Zweifel und seine eigene Perspektivveränderung auf die Legitimität von Waffeneinsatz und Worten zeigt. Doch auch eine persönlich-gefärbte Reportage sollte beim Vergleichen mit derselben Brille auf ihre Gegenstände blicken. Die schwache Rechercheleistung zu den Angriffen militanter Tschetschenen und den Reaktionen des russischen Staates darauf verhindern dies.
Hier zeigt sich ein Grundproblem des Buches: Autor und/oder Verlag wollen zu viel. Anstatt den niederländischen Fall zu vertiefen, wird – nicht immer schlüssig – weiteres Kontrastmittel aufgetragen: RAF, IRA, IS. Und dann verkündet der Buchrücken auch noch: “Eine packende Reportage über eines der drängendsten Probleme unserer Zeit.“ Doch über den dschihadistischen Terrorismus – der für uns Europäer derzeit ein drängendes Problem ist – geht der Autor einfach hinweg. Das liegt vor allem daran, dass er die ‘feinen Unterschiede‘ von Terrorismus nicht systematisch berücksichtigt. Er referiert zwar die Veränderungen des Terrorismus seit den 1970er Jahren, indem er einen Experten sprechen lässt (153ff.), bezieht dessen Erkenntnisse aber nicht konsequent in die Beantwortung und Differenzierung seiner Frage ein.
Die Frage “Muss man mit Terroristen reden?“ bezieht sich offensichtlich auf Ereignisse, in denen es auch den Tätern um das Verhandeln und das Erreichen konkreter politischer Ziele geht, wie die Unabhängigkeit der Süd-Molukken oder die Gründung eines kaukasischen Kalifats. Bei den jüngeren dschihadistischen Anschlägen wie in Berlin, Nizza oder London geht es aber gar nicht ums Verhandeln. Die Angreifer stellen nicht einmal konkrete politische Forderungen. Der IS hat den Kampf gegen die ‘Ungläubigen’ ausgerufen und der Tod eines jeden ‘Ungläubigen’ ist aus der Sicht des neuen Dschihadismus per se gut und verspricht dem Tötenden Belohnung im Jenseits. Das ist gottgewollt und darüber lässt sich nicht diskutieren – zumindest nicht im Laufe der Tat. “Sehen wir dem ins Auge: Als Unterhändler lässt sich nichts gegen einen Terroristen ausrichten, der sich in einer Menschenmenge in die Luft sprengt“, zitiert der Autor denn auch den Terrorismusexperten Guy Olivier Faure (155).
Leider greift Westerman diesen Widerspruch zum zentralen Thema des Buches nicht auf. Auf die daraus abzuleitenden, bedeutsamen Fragen: Wann muss man reden? Mit wem soll und kann man reden? Auf welchem Kanal und wie? erhalten die Leser nur verstreute Antworthäppchen. Dabei hätte eine intensivere Betrachtung des “dutch approach“ sogar vielversprechende Einblicke darauf geben können, wie ein Staat etwa das Rekrutierungspotential für terroristische Bewegungen verringern kann – indem er redet. Denn die niederländische Regierung hatte in den 1970er Jahre auch ein umfassendes Programm zur Integration und Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte initiiert, die die Triebfeder des süd-molukkischen Militantismus darstellte. Eine Vertiefung hätte so eine konstruktive Antwort auf die zentrale Frage des Buches geben können und nicht mit der lapidaren Einsicht resümiert: “Das Schwert ist nichts ohne den Stift. Und umgekehrt ist der Stift nichts ohne das Schwert.“ (254)
Wissenschaftler kritisieren an der Berichterstattung über Terrorismus unter anderem, dass sie das komplexe Phänomen Terrorismus auf die einzelnen Anschläge verkürze. Dieser Kritik arbeitet der Autor entgegen. Für diejenigen, die sich mit den bewaffneten Aktionen der Molukker auseinandersetzen und Einblick in die Arbeit von Unterhändlern gewinnen wollen, ist das Buch informativ und lesenswert. Diejenigen, die die Frage nach dem Umgang mit den aktuell drängenden Problemen des dschihadistischen Terrorismus umtreibt, werden von dem Buch enttäuscht sein. Denn korrekter hätte der Untertitel des Buches geheißen: “Wie redet man mit (politisch motivierten) Geiselnehmern?“
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Prof. Dr. Judith Pies an der Universität der Bundeswehr München
Über das BuchFrank Westerman: Reden. Reden? Reden! Spricht man mit Terroristen?Berlin [Ch. Links Verlag] 2016, 272 Seiten, 20,- Euro.Empfohlene ZitierweiseFrank Westerman: Reden. Reden? Reden!. von Pies, Judith in rezensionen:kommunikation:medien, 11. September 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20598